Es ist einmal, in nicht all zu langer Zeit XI

Nach drei Monaten Pause folgt hier Teil elf der unregelmäßig fortgesetzten Utopie/Dystopie.

Hier geht’s zu Teil zehn. So fing alles an (Teil eins)

Vor vielen Jahren, als wir gerade den alten Hof besetzt hatten, nachdem die emanzipatorischen Demonstrationen niedergeschlagen wurden, reagierten die faschistischen Gruppen durch ihre Solidarität mit dem Staat und der USA.  Für uns war das zu erst irritierend, gaben sie sich damals doch noch deutschtümelnd und antikapitalistisch. Die Erklärung dafür war simpel. Nach den Neuwahlen hatten die Republikaner die Macht erlangt und sofort die Grenzen geschlossen. Damit reagierten sie auf den zunehmenden Flüchtlingsstrom aus Südamerika. Hinter der US-Grenze wurden Auffanglager gerichtet, in denen die Flüchtlinge auf ihre Rückführung warten mussten. Bei Massenanstürmen auf die Grenzanlagen setzte die USA die Armee ein. Dieses Beispiel begrüßten die Faschisten, die sich zunehmend als Europäer unterschiedlicher Nationen begriffen und ihre Feinde nicht mehr im Nachbarstaat, sondern im Islam und den Ländern des nahen Osten suchten. Ich hatte vor Zorn schnaubend ein stundenlanges Plenum verschiedener Gruppen verlassen, dass eilig einberufen worden war. Am Vortag hatten die Medien von einem neuen Antrag im EU-Parlament berichtet, den Deutschland einbringen wollte. Die Mitgliedsstaaten sollten Kontingente ihrer Armeen zum Schutz der EU-Grenzen abstellen. Ich hatte im Plenum darauf gedrängt, dass wir den Flüchtlingen vor Ort helfen sollten, in dem wir die Grenzanlagen sabotierten. Das Plenum hatte mich niedergeredet. Der Großteil der Leute wollte lieber das deutsche Militär im Hinterland angreifen und so durch die Symbolik und den Sachschaden ein Zeichen setzen. Ich hatte hier gesessen, während die blutrote Sonne unterging und Steine in den See geworfen. Laura war aufgetaucht und hatte versucht mich zu beruhigen. „Wir haben keine Zeit mehr! Wenn die jetzt die Flüchtlinge einfach abknallen und das niemand verhindert, dann etabliert sich das Militär damit wieder endgültig in der Gesellschaft“, hatte ich geschrien. „Du argumentierst mit Zeitgründen?“, hatte Laura gefragt. „Ja verdammt!“ Ich war noch immer außer mir. „Was du sagst klingt ja vernünftig, aber deswegen mit der ablaufenden Zeit Druck auszuüben ist hinterhältig. Damit verschließt du dich für eine sachliche Argumentation.“ Wir hatten uns angeschrien bis die Sonne untergegangen war. Danach schworen wir uns, nie wieder so zu diskutieren. Daran will mich Laura wohl erinnern. Ich höre Schritte auf den Holzbohlen. Laura erscheint im morschen Türrahmen. „So so, Zeitgründe.“, sage ich und grinse. Laura sieht erschöpft aus. Aber offenbar hat sie keine körperlichen Verletzungen vom Kampf davongetragen. „Hast du die Botschaft verstanden?“, fragt sie und setzt sich neben mich auf den Steg. „Ich glaube schon. Die Diskussion in der LFNA verläuft sehr emotional? Keine Einigung in Sicht?“ Sie lacht. „So ähnlich. Es gibt einen Aufruf an die Soldaten der US-Armee sich zu ergeben und überzulaufen. Ein Teil der Delegierten der LFNA will jetzt abwarten und auf die Kapitulation warten. Der andere Teil fordert den weiteren Vormarsch und die Einnahme von Washington. Die Zeit sei gekommen, sagen sie.“  Ich gluckse amüsiert.  „Die Solidaritätsaktionen der Faschisten hat es fast überall gegeben. Es gibt Hinweise, dass die US-Regierung dazu aufgerufen hat Druck im feindlichen Hinterland zu machen.“ „Das kommt mir bekannt vor.“ Ich denke an die Ideen des Plenums vor vielen Jahren. „Wissen wir war über die Gruppe die uns angegriffen hat?“, frage ich und schleudere einen Kiesel in den See. Laura zieht ihren Digitalen Assistenten aus der Tasche und ruft eine Bildcollage auf. Bilder der Drohnenkamera sind älteren Fotos gegenübergestellt. Die Fotos, die von der Drohne aufgenommen wurden, zeigen vermummte und behelmte Menschen. Gesichts- und Augenmerkmale sind markiert. Pfeile zeigen auf die älteren Bilder. „Das sind Faschisten hier aus der Region. Offenbar organisieren die sich trotzdem weiter. Einige alte Bekannte von uns sind auch dabei.“ Ich scrolle die Bilder durch. Tatsächlich erkenne ich auf ein paar Fotos die Gesichter von Neonazis, die uns als junge Aktivisten schon gegenüber standen. „Was machen wir jetzt damit?“, frage ich Laura. „Wir wollen die Aufnahmen beim nächsten Plenum der Lokalföderation zeigen und dann entscheiden.“ Ich blicke auf. „Aber was soll mit denen geschehen? Wir können sie ja schlecht einsperren.“ Laura steckt den Assistenten wieder weg. „Das alte Problem…“ Sie seufzt. Unsere Idee war, ihnen die Essensrationen zu kürzen und sie vom Zugang zu den kollektivistisch erwirtschafteten Gütern  auszuschließen. Oder ihnen die Ausreise in die USA nahezulegen. Soziale Isolation wäre auch noch eine Option.“  Ich nicke. „Das ist auf jeden Fall als die Mittel die damals angewendet wurden.“ Laura berührt mich an der Schulter. „Die Mittel die wir damals angewendet haben. Vergiss das nicht.“ Wie könnte ich das vergessen! In den ersten Monaten waren wir kaum besser. Wir hatten mit den Mitteln gekämpft, die wir im Kapitalismus kennen gelernt hatten. Unterwerfung und Bestrafung. Auch mit körperlicher Gewalt. „Aber meinst du nicht, die werden sich dann wieder zusammenschließen, wenn wir sie komplett aus unserer Gesellschaft ausschließen?“, frage ich. „Die greifen uns organisiert an! Ich glaube, die sind besser vernetzt als wir es geahnt haben.“ Ein Schatten legt sich über den See. Ein Luftschiff zieht im Sinkflug über den See hinweg. „Komm, lass uns zum Gemeinschaftshaus gehen. Das Abendessen macht sich nicht von alleine.“

Veröffentlicht unter Revolutionsromantik | Kommentare deaktiviert für Es ist einmal, in nicht all zu langer Zeit XI

#Dunkelheit

Drüben bei Nicht schon wieder ein Blog gibt es einen Textbeitrag von mir, abseits des üblichen Politikgeschreibe, zum Thema Dunkelheit. Hier geht’s lang.

Veröffentlicht unter General | Kommentare deaktiviert für #Dunkelheit

Unterwegs

Der Zug schaukelt ruhig über das Gleis.  Vor dem Fenster ziehen Felder, Wälder und alte Fabrikkomplexe vorbei. Die Sonne steht tief und taucht die Szenerie in ein rot-goldenes Licht. Aus meinem kaputten Kopfhörer dringt eine Stimme.

„Es ist nichts neu, doch so vieles passiert. Wir haben die Stiefel geschnürt, denn das Ziel ist der Weg.“

Eine leichte Erschütterung sorgt dafür, dass die Stimme einen Moment aussetzt.

„Immer noch in fremden Städten nette Menschen treffen, dancen, Brecher, Wände taggen.“

Stille.

Ich strecke die Beine aus und tippe das Kopfhörerkabel an. Die Musik spielt weiter. Auf den Plätzen mir gegenüber sitzen zwei liebe Menschen. Die Kapuzen aufgesetzt, Tücher hochgezogen. Sie schlafen. Die Erschöpfung ist ihnen anzusehen. Auch mir fallen kurz die Augen zu. Es tut gut mal wieder rauszukommen. Weg von den gewohnten Straßen, wo ich jede Ecke kenne, weg von den Menschen die mich tagtäglich umgeben. Die Musik und meine Gedanken fließen ineinander, bilden eine wohlige Umgebung in die ich mich zurückziehe. Die vergangenen Stunden haben gut getan. Neue Denkanstöße, neue Anreize zur Selbstreflektion und Klarheit zu offenen Fragen, die sich vorher nicht so deutlich gestellt haben. Ein Gedankengang schleicht sich ein. Eine einfache Frage, die alles andere überlagert. Bin ich zu etwas hingefahren, oder bin ich vor etwas weggefahren? Vor etwas das mich bedrängt. Dass mir Angst macht und zu dem ich Abstand brauche. Auch wenn es nur ein paar Stunden sind. Wollte ich mir vielleicht etwas beweisen? Musste ich das? In schneller Abfolge sehe ich Bilder vor meinem inneren Auge. Bilder die mir die Luft abschnüren. Gesprächsfetzen. Bin ich das? Ist das jemand anderes? Ich kann es nicht verstehen. Eine vertraute Melodie schleicht sich in mein Unterbewusstsein. Zweifel. Vertraut und doch nicht gern gefühlt. Doch nun sind sie da. Ich öffne meine Augen und sehe in ein lächelndes Gesicht. Der Zug steht. Der goldene Schimmer ist verschwunden. Es ist dunkel geworden.

Zweifeln kann ich später noch. Wir sind unterwegs.

Veröffentlicht unter General | Kommentare deaktiviert für Unterwegs

Zwischen Matsch, Pfützen und Beton – Die Vergangenheit

Ich laufe mit dem alten Mann den schmalen Feldweg entlang. Der Regen der letzten Wochen hat den Boden aufgeweicht und tiefe Pfützen hinterlassen. Festen Schrittes stapft er durch sie hindurch, während ich immer wieder ausweichen muss, um keine nassen zu bekommen. Rauer Wind weht durch die Äste der kahlen Bäume am Waldrand. Es riecht modrig. Links neben uns liegt ein Acker, die Furchen und Abdrücke der Feldmaschinen sind noch deutlich erkennbar. Auch hier steht das Wasser. Wir reden über früher. Er erzählt mir von seiner Zeit in der HJ, für die er sich sichtbar schämt. Er erzählt mir auch von seinen Freunden aus der Sozialistischen Jugend, die nicht einverstanden waren mit dem was die Nazis taten und nach und nach verschwanden. Ich berichte ihm von dem was ich politisch tue.  Nach einer Weile bleibt er stehen und schaut regungslos auf das Feld. „Da drüben.“, sagt er schließlich. Ich folge seinem Blick. Zwischen zwei Feldern verläuft eine schmale Grasnarbe. Einzelne Kornähren ragen hier und da aus dem Boden. Nach etwa 50 Metern öffnet sich die Grasnarbe zu einer kleinen Wiese. Ein umgestürzter Baum und wild wucherndes Gebüsch bilden eine Insel, mit den Feldern als Meer dazwischen. Ich kenne diesen Ort. Als kleines Kind habe ich hier oft gespielt. Mit dem Fernglas hatten wir uns dort versteckt und die vorbeilaufenden Menschen beobachtet. Sacht setzt er einen Fuß auf die Grasnarbe. Die Schuhsohle sinkt leicht ein. Schließlich geht er zielstrebig auf die Insel zu. In mich hinein fluchend folge ich ihm. Wasser und kalter Matsch durchtränken meinen Schuh. und umspielen meinen Fuß. Auf der Insel angekommen schaut er mich an. Eine undefinierbare Schwere liegt in seinem Blick. „Was siehst du hier?“, fragt er mich. Ich drehe mich um die eigene Achse. „Nichts besonderes. Wald, Felder, da hinten ein paar Häuser und das Dorf, da hinten den Stadtrand.“, sage ich, unsicher worauf er hinaus will. „In etwa das gleiche wie ich vor 70 Jahren.“. Seine Stimme klingt trocken. Vor 70 Jahren? Ich rechne. 1943! „Damals war hier noch ein bisschen mehr Feld und weniger Bebauung. Aber im Grunde hat sich kaum etwas verändert.“ Er schweigt. Scheinbar ziellos scharrt er mit einem Fuß auf den Boden. Kleine Schlammbrocken spritzen auf. Ein dumpfes ‚tock“ ertönt unter seiner Fußsohle. Mein Blick heftet sich auf etwas viereckiges auf dem Boden, dass sich rot-bräunlich schimmernd vom Matsch abhebt. Mit der Fußspitze hebt er es an und schiebt es dann zur Seite. Mit zwei weiteren Platten verfährt er eben so. Verdutzt realisiere ich, was da im Schlamm verborgen lag. Eine betonierte Fläche von etwa 4 mal 4 Metern. In ihrer Mitte ist eine Kuhle in die ich mich hätte setzen können. An ihren Rändern kann ich verrostete Halterungen erkennen, die nach oben gebogen sind. „Was ist das?“, frage ich und schaue ihm ins Gesicht. Er wirkt abwesend. „Das sind die Reste einer FLAK-Stellung.“ Er geht um die Kuhle herum und setzt sich auf den umgestürzten Baum. „Im Oktober vor 70 Jahren haben wir hier gestanden und versucht die Briten abzuschießen, die die Stadt bombardieren wollten.“ Ich versuche mir vorzustellen wie es gewesen sein muss. Ratlos starre ich auf den Beton, der all die Jahre so dicht unter mir gelegen hatte. „Am 8. Oktober Nachmittags gingen die Sirenen das erste mal. Aber es war nur ein Fehlalarm. Wir hatten die Befehl uns beim Sirenenton sofort zu den Stellungen zu rennen. Aber an diesem Nachmittag passierte nichts. Wir saßen hier nur und starrten auf den Wald. Es kam aber auch keine Entwarnung. Niemand von uns traute sich den Posten zu verlassen um zu erfragen ob es neue Befehle gab. Später hat sich dann rausgestellt das sie uns vergessen hatten. Gegen Abend wurde es kalt. 10 Grad höchstens. Gegen 1 hörten wir die ersten Maschinen. Es war nur ein kleines Schwadron. Wir kannten das schon. Wir machten die FLAK feuerbereit und warteten. Als die Flieger dann in Reichweite waren, feuerten wir. Eine Maschine trafen wir am linken Flügel, sie geriet ins Trudeln und ging runter. In einem Halbkreis flog sie auf uns zu und stürzte auf dem Nachbarfeld. Der restliche Verband flog über die Stadt und warf Leuchtkugeln ab. Zielmarkierer. Als wir die bunten Kugeln über der Stadt fallen sahen, wussten wir, dass etwas großes passierte. Kurze Zeit später ertönte ein lautes Dröhnen. Über hundert Maschinen flogen über die Stadt und warfen ihre Bomben ab. Als wir die Feuer in der Stadt sahen, liefen wir davon. Wir wussten das es die Stadt schwer getroffen haben musste. Aber ich empfand keine Trauer. Kein Gefühl. Wir ließen einfach alles liegen. Auf dem Rückweg kamen wir am Wrack des britischen Bombers vorbei. Als wir die Toten sahen, weinte ich. Ich habe danach nie wieder eine Waffe bedient.“

[Der Großteil diese Erzählung ist wahr. Nur hier und da habe ich Teile aus einem anderen Gespräch in die Situation eingefügt.]

Ironischer Weise ist es der gleiche Ort, an dem ich wenige Monate später erneut ein Gespräch führe, dass mich ähnlich bewegt. Ein Gespräch mit einer Frau, die mich besucht. Eine Bekannte, der ich von meinen Erlebnissen aus Hamburg erzähle. In der Abgeschiedenheit, weit weg von anderen Menschen erzählt sie mir von einer dunklen Nacht in Wackersdorf, von Leuchtraketen, Tränengas, Knüppeln, Zwillen und zwei Schüssen, die ihr Leben veränderten. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

 

 

Veröffentlicht unter General | Kommentare deaktiviert für Zwischen Matsch, Pfützen und Beton – Die Vergangenheit

#derGeschichte

Es war spät geworden. Den letzten Gast hatte Melissa vor fünf Minuten aus der Türe geschoben. Sie hätte heute Nacht nicht schlafen können, nicht bevor der traurige Silvesterkarpfen in Frischhaltefolie verpackt an den Mann gebracht wäre. Sie hasste Karpfen.

So beginnt eine Geschichte. Eine ungewöhnliche Geschichte. Eine Geschichte, geschrieben von sechs Autoren. Sechs? Ja, sechs Autoren. Drüben bei Twitter gibt es ja immer wieder spannende Dynamiken. Und so fanden sich im Januar sechs sehr unterschiedliche Autoren zu einem Kollektiv zusammen, dass gemeinsam an einer Geschichte schreibt. Während die Verlage immer wieder darüber maulen, dass sie haufenweise schlechte Manuskripte zugesendet bekommen, weil heute jeder etwas schreiben will, verzichten immer wieder Leute auf Verlage und Publikation auf Totholz. Das Zeitalter der eBooks hat da einiges verändert. Oder aber die schreibenden Menschen veröffentlichen ihre Texte einfach auf Webblogs. Statt Lesereisen, Voranzahlungen und PR-Gesprächen setzten sie auf virales Marketing und die Schwarmintelligenz im Internet. #derGeschichte ist ein Beispiel für klassisches Do It Yourself im Web. Lektoren und Verlagskaufleute würden sich beim Wechselhaften Erzählstil und den Sprüngen im Text sicher die Haare raufen. Schaut man sich #derGeschichte auf Twitter an, kann man sehen wie gut dieses Format ankommt.

Wieso erwähne ich dieses Projekt im Rahmen meines Blogs? Für mich ist diese Form des DIY eine Art anarchistische Gedanken zu leben. Auch wenn sich dessen die Autoren wohl eher nicht bewusst sind. Blicken wir mal auf die Selbstbeschreibung des Projekts.

6 Twitterer sind wir, Geschichten spinnende. Jeder für sich irgendwo zwischen den Welten. Gemeinsam schlagen unsere Herzen seit dem 03.01.2014 für eine Geschichte, nämlich – und DU kannst ihr folgen #DerGeschichte
In fester Reihenfolge gehört die Bühne dem allein, der am Drannsten ist. Ohne Rücksprache. Ohne Vorgaben… und der Nächste folgt mit eigener Gangart und Schreibweise.

Habe ich Interesse geweckt? -> Da gehts lang zu #derGeschichte

Nachtrag: Meine Lieblingszeilen aus #derGeschichte:

Durch das Fenster des Flugzeuges brach Licht des aufgehenden Mondes. Außerhalb der Maschine stand in luftiger Höhe die Zeit still; im Innern geriet die Welt aus den Fugen.

Bestialischer Gestank aus dem Blut zweier Körper, panisch entleerter Innereien und hoch gewürgter Speisereste erdrückten sämtliche Geräuschkulisse. Angst presste fast alle Passagiere in ihre Sitze, ein Flugbegleiter lag ohnmächtig am Boden.

Seine Kollegin hockte heulend hinter ihm im Gang. Sicherheitstraining und Schulungen schützen nicht vor menschlichem Versagen.

Sebastiens Verstand arbeitete mit tödlicher Effizienz eine Liste von Möglichkeiten ab. Die Situation schien ausweglos. Kilometer weit in der Höhe, aller Hilfsmittel dank Gepäckabgabe beraubt.
Zum ersten Mal seit langer Zeit wischte er sich Schweißperlen von der Stirn.
‘Kontrolliertes Chaos. Das wird mein Meisterwerk. Perfektion vor dutzenden von Augen. Und sie werden mich als Helden feiern.

 

Veröffentlicht unter General | 2 Kommentare

„Herzschlag“ Erstes Album TickTickBoom

Ich versuche mich mal an etwas neuem. Heute kam das erste Album der HipHop-Connection „Ticktickboom“ heraus. Es folgt eine unvollständige erste Rezension meinerseits.

Ticktickboom? Dahinter verbergen sich einige bekannte und einige weniger bekannte Künstler.  Sie selber schreiben

„TickTickBoom ist ein Zusammenschluss aus über 20 Sänger*innen, DJ*anes, Beatproduzent*innen, Veranstalter*innen, Grafiker*innen und Rapper*innen, die linken Hip Hop machen und feiern. Wir nennen diesen linken Hip Hop “Zeckenrap”. Nach unserer Gründung Ende 2012 veranstalteten wir zwei ausverkaufte Zeckenrap-Galas in Berlin und Hamburg mit insgesamt über 1.500 Gästen.“ bei Facebook.

Mit dabei sind u.a. Sookee, Johnny Mauser, Refpolk, Pyro One, Captain Gips, Spezial-K und LeijiOne.

Das  Album heißt HERZSCHLAG und gibt es drüben bei Bandcamp für Lau oder einen Geldwert der eignen Wahl, die Vinyl bei DirAction. Der Blick auf das Cover zeigt einen Baum oder Wurzeln auf augenscheinlich zerknülltem Papier. Mit 15 Tracks und einer Laufzeit von 55 Minuten kommt dabei auch einiges auf die Ohren.

Ohne großes Intro geht es mit „WISSEN WER DIE ZECKEN SIND“ los. Eine „ emanzipatorische Adaption von „Chabos wissen wer der Babo ist“. Der Track hat sich noch einmal gewandelt und ein anderes Feeling, als in der Freestyle-Version von Sookee und in der Version mit Sookee und LeijiOne. Der Track kommt wurde noch einmal komplett neu eingespielt. Mit Backup und mehr Gefühl wirkt er jetzt wie etwas Eigenes. Die Message, eine  Absage an den Mainstream im Hip-Hop und Mackertum wird dadurch noch deutlicher.

Mit SBKLTR versucht sich TickTickBoom auf Französisch, ungewöhnlich für den bisherigen Zeckenrap und erinnert dabei ein bisschen an Keny Arkana mit Reggae-Flair. Hier wird dem heteronormativen „wir“ eine Absage erteilt, ein kritischer Blick auf die eigene Szene geworfen und Solidarität gefordert.

In FREUDENFEUER setzt TickTickBoom den vielen Aktivist*innen ein kleines Denkmal und verbindet Emotionen und politischen Kampf. Besonders die Zeilen

„Feuer und Flamme, beides leuchtet in dir/ Kennst du dein Lachen? Ja du brennst für die Sache/ Manche Glut muss man nicht mehr entfachen/ Der Muskel in der Brust brennt, die Beine sind Müde/ Kampf gegen Windmühlen/ anstrengend, wie ein Kind fühlen/ Macht das manchmal ein bisschen leichter/Umschauen was ihr jetzt schon erreicht habt.“

,hinterlassen bei mir das Gefühl verstanden zu werden.

C’EST QUOI TON ROLE thematisiert noch einmal die Situation von Menschen ohne Papiere, Flucht und die Rolle von Europa bei Flucht und Vertreibung. Der Sound ist dem Thema angepasst, kämpferisch und zum mit-dem-Kopf-nicken.

Zum Abschluss zeigt „Zusammenhänge“ dann noch einmal alle Themen die TickTickBoom wichtig sind auf und lässt den Hörenden mit den typischen Sounds zurück.

Für Menschen die zuvor schon emanzipatorischen HipHop oder Zeckenrap gehört haben gibt es wenig Neues. Dass die Zusammenarbeit verschiedener einzelner Zeckenrapper als Crew ein musikalisches Leckerbissen ist, hat sich ja schon bei Neonschwarz gezeigt. TickTickBoom vernetzt sich nicht nur. Der Einfluss der einzelnen Künstler mit unterschiedlichem Klang, Sprache und Anspruch mischen sich und definieren Zeckenrap neu. Kampfansagen, Glamour, Selbstkritik, Ironie und ein Geschenk an die „Szene“. All das ist Zeckenrap.

Nachtrag: Beim nächsten mal gibts mehr Adjektive. Versprochen. Wirklich.

Veröffentlicht unter General | Kommentare deaktiviert für „Herzschlag“ Erstes Album TickTickBoom

2014 – Danke und Blick nach vorne

Ich sitze hier und denke mir: „Ich sollte mal wieder was schreiben.“ Irgendwie hat sich wieder vieles angestaut. Frust, Ängste, Dinge die in Metaphern gezwängt oder verwischt niedergeschrieben werden wollen.  Zu Hamburg gäbe es noch so viel zu schreiben. Aber vieles wurde schon an anderer Stelle gesagt, besprochen und aufgegriffen, so dass ich denke meine kurze Verarbeitung kann alleine stehen bleiben und bedarf keiner weiteren Erklärungen. Über die Reaktionen auf meine Schreiberei wollte ich auch noch ein paar Zeilen verlieren. Die Kommentarfunktion haben bisher nur ein paar Spambots genutzt. Aber die eine oder andere Reaktion kommt dann und wann doch via Twitter – oder offline, von denjenigen die wissen wer hinter dem Nicknamen steckt.

An dieser Stelle: Danke dafür! Danke für jedes kleine Feedback, Gemecker, Rechtschreibkorrekturen, Lob, Anmerkungen und vor allem DANKE für die vielen Ideen!

Dieser Blog wird hoffentlich auch 2014 eine Möglichkeit sein meine Gedanken zu sortieren, Dinge loszuwerden und Kreativität freizusetzen.

Für 2014 habe ich mir hier und anderswo ein paar Dinge vorgenommen und bin schon selbst gespannt auf die Umsetzung.

 

Euch ein schönes neues Jahr 2014!

Veröffentlicht unter General | Kommentare deaktiviert für 2014 – Danke und Blick nach vorne

#HH2112 – Der Versuch einer Verarbeitung

Vier Tage sind die „Krawalle um die Flora“ nun her. Vieles wurde gesagt, kritisiert, viel Angst geschürt. Mittlerweile gibt es haufenweise Videos, Bilder, Presserklärungen und einige Erlebnisberichte. Noch nie habe ich nach einer politischen Aktion so viel Informationen und Reaktionen konsumiert.  Dieser Text soll weder ein Gedächtnisprotokoll, noch eine Reportage aus der Sicht eines Demonstranten werden, sondern ein Versuch das erlebte zu verarbeiten.
Schon im Vorfeld kochten die Emotionen enorm hoch. Der „Investor“ hatte den Rotfloristen ein Ultimatum gesetzt und es dann wieder relativiert. In gewissen Kreisen kursierten Gerüchte, internationale Reisegruppen machten sich auf den Weg nach Hamburg.
Es lag in der Luft, dass dies keine gewöhnliche Demonstration werden würde.
In den frühen Mittagsstunden lag eine gespannte Stimmung über der Schanze. Um so überraschter war ich, als ich am Bhf Sternschanze keine Vorkontrollen sah.
Gegen Mittag füllte sich das Schulterblatt. Immer wieder sah ich bekannte Gesichter. In der Flora liefen über eine Twitterwall die Bewegungen der Cops, die in der Schanze selber kaum zu sehen waren. Dann irgendwann begann die Kundgebung vor der Flora. Redebeiträge des Flüchtlingsrats, der Rotfloristen und immer wieder der Hinweis auf den Ermittlungsausschuss.  Als sich der Demonstrationszug gegen 15 Uhr formierte war die Anspannung fast greifbar. Die ersten Reihen der Demo hatten sich hinter Front- und Seitentransparenten formiert. Ganz vorne mit dabei „ums ganze“ mit einem eher komisch anmutendem Transparent. Dinge wurden durch die Menge gereicht. Kapuzen wurden gerichtet. Über den Lautsprecherwagen wurde der baldige Start der Demo angekündigt, da ein Redebeitrag der Gruppe Lampedusa in Hamburg ausgefallen war.Die ersten Reihen setzten sich in Bewegung. Zeitgleich flammten mehrere Bengalos auf. Plötzlich stoppte die Demo wieder. Von weiter vorne waren Cops in Riotmontur zu sehen, die auf die Demo zuliefen. Einige noch mit den Helmen in der Hand. Dann schoss der Wasserwerfer. Lautsprecherdurchsagen vom Wasserwerfer und vom Lauti der Demo überlagerten sich. Es krachte immer wieder.  Die ersten Reihen wichen zurück. Auch wir wurden zurückgedrängt. Dann kam Bewegung in die Menge. Ein Greiftrupp der Cops stürmte knüppelnd und Pfeffer versprühend frontal in die Demo Die Leute wichen ungeordnet zurück. Wir wurden auf den Bordstein gedrängt. Der Angriff der Cops hatte sofort eine Gegenreaktion zu Folge. Die Cops wurden mit allem eingedeckt was greifbar war. Schnell zogen sie sich zurück. Zeitgleich kam eine weitere Einheit unter roher Gewalt aus der Seitenstraße gerannt. Meine Aufmerksamkeit verlagerte sich, als Ein Strahl Wasser über mich niederging. Erst jetzt realisierte ich das vor der Bahnbrücke zwei Wasserwerfer standen, die die Demonstration beschoss. Die Leute vor mir wichen weiter zurück und gaben den Blic auf einen weiteren Trupp Riotcops frei, der sich über den Bürgersteig weiter auf uns zu drängte. Mittlerweile waren wir bis zum Lautsprecherwagen zurückgedrängt worden. Nun konnte ich sehen wie die Menschen auf der anderen Straßenseite die Cops entschlossen zurückdrängten. Der Wasserwerfer konzentrierte sich jetzt auf sie. Das gab mir die Gelegenheit die Situation weiter zu erfassen. Die Cops hatten die Demo nach weniger als 2 Minuten gestoppt und griff sie nun ohne ersichtlichen Grund an. Dabei gaben sie sich nicht damit zufrieden die ersten Reihen niederzu knüppeln. Mittlerweile griffen sie das gesamte erste Drittel der Menge an. Ich hörte das Zischen des Wasserwerfers, der zerplatzenden Flaschen, roch das Pfefferspray in der Luft und nahm die unzähligen Schreie um mich herum wahr. Panische und zornige. Wir zogen uns in den Eingang der Flora zurück und beobachteten die Szenerie. Immer mehr Cops rückten auf. Hier würde keine Demo stattfinden, wenn die Cops weiterhin so massiv gegen die Demo vorgingen. Noch immer leisteten die Demonstranten aus den ersten Reihen erbitterte Gegenwehr gegen den Angriff der Cops. Ich sah wie weiter vorne Sannis zu Boden gingen.  In den Eingang der Flora retten sich nun die ersten verwundeten durch Pfefferspray und den Polizeiknüppel. Die ersten Verwundeten wurden versorgt, Augen ausgespült. In einem günstig erscheinendem Moment  zogen wir uns durch den Florpark in die Juliusstr (?) zwischen Flora und Haspa zurück. Nur um festzustellen das wir eingekesselt waren. In den folgenden zwei (?) Stunden checkten wir die Lage, versorgten weitere Verletzte und freuten uns über die Solidarität einiger Anwohner, die uns mit Kühlpads, Wasser und Süßigkeiten versorgten. Als es Dunkel wurde, konnten wir den Kessel wieder verlassen und trafen auf dem Schulterblatt auf den Oldtimer-Wasserwerfer der St. Pauli-Fans, aus dem das „Recht auf Stadt“-Bündnis eine Kundgebung ankündigte. Ein skurriles Bild. Der alte Wasserwerfer stand einer Kette Robocops gegenüber. Wieder wurden wir gekesse
lt. Als über den alten Wasserwerfer kommuniziert wurde, dass die Cops nicht gewillt waren eine weitere, spontane Kundgebung zuzulassen, verschwanden wir durch ein Seitentor und befanden uns in einem idyllischem Hinterhof mit einer antiken Straßenlaterne und Kopfsteinpflaster, als hätten wir ein Tor zu einer längst vergangenen Zeit durchschritten. Bewegung kam in die Menge, die Cops seien hinter uns. Schell verließen wir den Weg wieder. Die angemeldete Demonstration war zerschlagen. Andere Protestformen bestimmten den restlichen Abend.

 

Veröffentlicht unter General | Verschlagwortet mit , , , , | 4 Kommentare

Es ist einmal, in gar nicht all zu langer Zeit X

Am Frühstückstisch kämpfe ich mit mir selbst. Alles in mir zieht es in den Sender. Ich will erfahren was passiert ist, will an der Einschätzung dieser neuen Bedrohung mitwirken. Die Stimme der Vernunft hält mich schließlich davon ab. Beim Aufstehen durchzuckt mich erneut ein heftiger Schmerz von den Fußspitzen bis unter die Schädeldecke. Ich beschließe mich bis zum Mittag in Geduld zu üben. Beim Abwaschen meines Geschirrs fällt mir auf, dass die Tische um mich herum noch gut gefüllt sind. Offenbar steckt die vergangene Nacht noch vielen in den Knochen. Hier und da winken mir bekannte Gesichter zu, als ich hinausgehe. Unentschlossen schlendere ich auf dem Hof hin und her. Zuerst tragen mich meine Beine zum Tor. Einige Menschen die gut Handwerken können, schweißen davor an einem robusteren Tor. Auf der alten Palisade, die vor einigen Tagen noch als Spielplatz für die Kinder gedient hatte, patrouillieren bewaffnete Wachen einer Schutzgruppe. Ich nicke ihnen gedankenverloren zu und laufe entlang der Palisade zum See. Jenseits der alten Holzkonstruktion liegt der Abhang und dahinter der Wald, aus dem in der letzten Nacht die Faschisten gekommen waren. Angriffe dieser Art waren nicht neues. Früher hatten sie häufiger versucht die Black Cat zu überennen, Gefangene zu nehmen oder Ernteerträge zu klauen. Aber das war mindestens zwei Jahrzehnte her. Die anhaltende Gewalt in den Städten war einer der Gründe gewesen, warum wir uns hier her zurückgezogen hatten. Als die Staatsmacht immer brutaler gegen die Proteste vorging und selbstorganisierte Projekte zerschlug, stellte uns das vor die Frage, wie wir uns verteidigen konnten. Wenn uns die Polizei angriff hatten wir uns auch vorher schon gewehrt. Wir hatten Steine und selbstgebaute Brandsätze geworfen. So mancher griff auf eine Zwille zurück. Aber gegen die Drohnen, voll gepanzerte Cops, Soundkanonen und die damals neu entwickelten Walker kamen wir nicht an. Einige kleinere Gruppen besorgten sich Schusswaffen und lieferten sich Schießereien. Aber auch das verschaffte uns nur wenige Wochen einen Vorteil. Ausgelöst durch den Tod mehrerer Mitstreiter begann eine breite Diskussion um die Militanz. Eine Diskussion die die älteren unter uns auch vorher schon immer wieder geführt hatten, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Bei einer illegalen, aber länger vorbereiteten Demonstration gegen die Einführung des „Rückführungsgesetzes“, mit dem die Polizei quasi wahllos Menschen die hier nicht geboren waren, abschieben konnte, kam es zu einer Explosion in einem Regierungsgebäude. Die Polizei ging davon aus, dass die Explosion durch die Demonstranten verursacht worden war und eröffnete das Feuer. Ich hatte mit anderen Menschen aus meiner politischen Gruppe einen Lautsprecherwagen geschoben und konnte mich hinter ihm verstecken. Meine Füße hatten mich zum See geführt. Der leichte Wind kröselte die Oberfläche. An einem Baumstamm, der vom Ufer ins Wasser ragte brachen sich kleine Wellen und wurden ein Stück zurückgeworfen, bevor sie von anderen erneut gegen den Stamm gedrückt wurden. Das Bild der sich brechenden Wellen vermischt sich mit den Bildern in meiner Erinnerung: „Bleiberecht, überall, kein Mensch ist ille…“ Ein ohrenbetäubender Knall, gefolgt von einer Druckwelle ertönte. Ich riss die Hände vor meine Ohren. Alles klang auf einmal dumpf. Menschen schrien auf. Mein Blick wanderte über die Demonstranten hinter mir. Was war das? Hatte jemand einen Böller gezündet? War eine Tränengasgranate explodiert? Mein Blick wanderte weiter über die Häuserdächer. Hatte vielleicht jemand etwas herunter geworfen? Schräg vor mir quoll dichter Rauch aus einem Betonklotz. War das nicht das Büro der Ausländerbehörde? Die dumpfe Akustik wich einem penetranten Fiepen. „Rick, komm schon, schnell weiter!“ Das war Hussein. Er schüttelte mich an der Schulter. Die Demonstranten zogen um uns herum weiter, einige waren in einen Laufschritt verfallen. Ich konzentrierte mich wieder auf den Wagen. Wir schoben weiter, während über uns das helle Surren der Drohnen zu hören war, die zum Ort der Explosion flogen. „Bleibt dicht zusammen. Da drüben in der Ausländerbehörde hat es offenbar gerade geknallt. Wir ziehen jetzt weiter zum Ort der Abschlusskundgebung.“, tönt eine Stimme vom Wagen. Was dann folgte geschah aus heiterem Himmel. Schatten rannten an mir vorbei und schrien. Sie kamen an den eingeharkten Demonstranten nicht weiter und wurden zurückgeworfen „Die greifen an.“ Noch mehr Leute um mich herum harkten sich unter. Es knallte wieder. Aber diesmal waren die Geräuschquellen näher. Viel näher. Über die Köpfe der anderen hinweg sah ich in die Läufe von Pistolen und Gewehren. „Runter!“ Hatte ich das gerufen? Ich weiß es nicht mehr. Ich ließ mich fallen. Hussein landete eine Handbreit neben mir. Vor meinem Kopf mir ragten Leas Stiefel auf. „Lea, komm runter!“, schrie ich und zog an ihrem Hosenbein. Unsanft landete sie auf meinem Rücken. Zeitgleich fiel neben sie noch eine weitere Gestalt. Der Körper der Gestalt schlug gegen die Heckseite des Wagens und rutschte daran herunter. Ich versuchte zu erkennen wer es war. Ich drehte mich unter Leas Gewicht ein Stück zur Seite um das Gesicht der Gestalt zu erkennen. Als ich es sah, riss ich die Augen auf. Da wo Augen und Nase sein sollten klaffte ein tiefes Loch. Eine dickflüssige rote Masse topfte auf den Asphalt. Ich war damals dagewesen, als sie begannen auf Demonstrationen zu schießen. Ich hatte das Gefühl der vollkommenen Ohnmacht vor dieser brutalen Gewalt erlebt. Ich hatte den Zorn und das Bedürfnis nach Rache für die getöteten Demonstranten in mir gespürt. Noch am gleichen Abend kam es zu wütenden Demonstrationen in mehreren Städten. Fast überall wurden Polizeistationen, Streifen oder Regierungsgebäude als Vergeltung angegriffen. Aber das brachte uns nicht weiter. In den Wochen danach diskutierten wir in unterschiedlichsten Plenas über die Mittel zur Fortsetzung des Kampfes. Einige Stimmen forderten bewaffnete Demonstrationen zur Abschreckung und um sich wehren zu können. Andere Stimmen waren für die Aufgabe der Großdemonstrationen und sprachen sich für dezentrales Agieren aus. Wieder andere waren der Meinung, dass der Kampf so nicht zu gewinnen sei. Zu einem Konsens kamen wir nicht. Es gab in der Zeit danach Demonstrationen auf denen einzelne Waffen trugen, es gab vermehrt dezentrale Angriffe und direkte Aktionen und es gab Menschen die den Kampf an anderen Orten fortsetzen wollten. Schon vorher hatten wir uns im Kampf gegen die Verschärfung der Gesetze gegen Flüchtlinge nicht nur auf die Städte konzentriert. Gerade in den Dörfern, dort wo der Einfluss und die Angst vor der Staatsmacht noch nicht so groß war, fanden wir solidarische Menschen die Flüchtlinge versteckten und uns mit Gütern unterstützten. Teilweise bildeten sich hier sogar eigene Gruppen die Positionen erarbeiteten. Am Rande eines Dorfes, umlagert von Wald gab es einen alten Bauernhof. Die Besitzer waren aus unbekannten Gründen Jahre zuvor geflohen. Die Natur hatte den Hof zurückerobert. Getreide wuchs mitten auf den Wegen. Hühner, Katzen und Kühe hatten sich wild vermehrt. Wir stießen durch den Tipp eines Dorfbewohners darauf. Während die Auseinandersetzungen in den Städten weitergingen, renovierten und reparierten wir den Bauernhof und schufen einen Rückzugsort für uns. Der alte Maststall wurde zum großen Plenumsraum. Die Unterkünfte für die Feldarbeiter wurden zu Wohnräumen. Die alte Tenne, das Hauptgebäude mit einer großen Scheune wurde zum Büro. Außer Puste von der Anstrengung des Spaziergangs bleibe ich stehen, drehe mich um und schaue zur kleinen Stadt, die um den alten Hof entstanden ist. Dass wir einmal so viele werden würden, hatten wir damals nicht erwartet. Die Häuser derer die uns nach und nach gefolgt waren, reichten mittlerweile bis zum alten Dorf. Dessen Bewohner hatten sich uns angeschlossen als wir ihnen vor vielen Jahren ankündigten, dass wir beabsichtigten uns dauerhaft auf dem Hof niederzulassen und rasch wuchsen. Von ihnen hatten wir fast alles gelernt, was man wissen musste um einen Hof zu bewirtschaften. Der Einfallsreichtum und die handwerklichen Fähigkeiten der Dorfbewohner wurden besonders wertvoll, als die Wirtschaftskrise begann und viele Güter knapp wurden. Mit den Gedanken an den ersten kalten Winter auf dem Hof kehre ich in das Gemeinschaftshaus zurück. Wenn ich schon im Sender heute nicht erwünscht war, dann konnte ich ja beim Essen machen helfen. Beim Essen halte ich Ausschau nach Laura, aber ich kann sie nicht finden. Nur Carl läuft mir kurz über den Weg. Er erkundigt sich nach meinem Befinden und richtet mir aus, dass Laura aus Zeitgründen nicht zu Essen gekommen sei. Als ich lachend zurück in den Hof gehe, blickt er mir ratlos hinterher. Dieses „aus Zeitgründen“, war eine Formulierung die nur von Laura kommen konnte. Früher einmal war sie die ultimative Entschuldigung oder Rechtfertigung gewesen. In einer hektischen, auf Profit ausgelegten Welt, in der jeder seine Zeit maximal ausreizte um sich ein möglichst großes Stück vom Kuchen dieses Profits zu sichern, hatte beinahe jeder Verständnis dafür, dass andere, zumeist private Dinge deswegen nicht gemacht werden konnten. Diese Formulierung war natürlich für heute unsinnig. Laura hatte keinen direkten Nutzen für sich, wenn sie länger das tat, was sie gerne wollte. Sie bekam keinen Lohn, keine Vorteile. Abgesehen von Wissen, Erfahrung und persönlicher Entfaltung. Ich glaube zu verstehen, was sie mir damit mitteilen wollte, dass sie Carl um die Übermittlung dieser Worte gegeben hatte. Gespannt ob ich damit Recht habe, beginne ich den See diesmal in der anderen Richtung zu umrunden. Der Weg führt hinter den Gebäuden des alten Hofs entlang und auf den Hügel mit dem Sender zu. Stellenweise führen Bohlen über kleine Ausläufer des Sees. Nach etwa einer halben Stunde ragt vor mir das verfallene Bootshaus auf. Ich betrete vorsichtig den Steg und lasse mich an einer noch nicht vermoderten Stelle nieder. Mit dem Beinen über dem Wasser baumelnd, erinnere ich mich zurück, während ich warte.

Veröffentlicht unter Revolutionsromantik | Kommentare deaktiviert für Es ist einmal, in gar nicht all zu langer Zeit X

Anmerkungen und Gedanken zu „Es ist einmal, in gar nicht allzu langer Zeit.“

Ursprünglich war der Text ein weitergedachter Gedanke des Liedtextes zu „Gestern von Morgen“ von Neonschwarz. In dem Lied wird von einem fiktiven Morgen auf ein Gestern zurückgeblickt. „Setz dich einfach mal zu mir und ich erzähle dir ein Stück, ich blättere die Seiten um Jahrzehnte lang zurück. Du glaubst es nicht, doch es gab da mal ne Zeit, da waren die Leute hier zu fast allem bereit.“ Diese Textzeile animierte mich dazu meine Vorstellung von einem möglichen Morgen aufzuschreiben. Je mehr ich schrieb, umso mehr stellte sich für mich auch die Frage wie denn dieses Gestern aussah und wie es zum Morgen kam. Ich habe versucht durchs weiterschreiben eine Antwort darauf zu finden. Bald fiel mir auf, dass ich in der Zeitphase zwischen Gestern und Morgen immer mehr Ereignisse aus dem realen heute einbaute, auch wenn ich die Ereignisse leicht abwandelte oder aus dem Kontext riss. Das machte es für mich einfacher, weil ich mich so noch besser in die Gedanken des Protagonisten hineinversetzen konnte. Anderseits verschwamm für mich dabei die Grenze zwischen Fiktion und Realität immer mehr und ich versuchte beim Schreiben dieses Gestern weiter auszubauen. Dabei verlor ich den Blick auf das Morgen.

Vorausgesetzt die beschriebene Utopie würde tatsächlich real sein, ist es realistisch, dass es noch immer Faschisten gäbe – oder zumindest Menschen die die befreite Gesellschaft ablehnen? Wie würden diese Menschen leben? Ist es realistisch das es weiterhin Kriege geben würde? Wäre das nicht ein Bruch zu den Idealen, die diese Menschen haben würden? Was würden die Menschen dabei fühlen? Wie würden sie darauf reagieren? Wie würden Menschen die in einer libertären Gesellschaft aufgewachsen sind, mit einem faschistischen Angriff umgehen?

Solche und viele weitere Fragen stellen sich mir beim Entwickeln des Textes – und noch habe ich darauf keine wirklichen Antworten gefunden.

Veröffentlicht unter General | Kommentare deaktiviert für Anmerkungen und Gedanken zu „Es ist einmal, in gar nicht allzu langer Zeit.“