Es ist einmal, in gar nicht all zu langer Zeit X

Am Frühstückstisch kämpfe ich mit mir selbst. Alles in mir zieht es in den Sender. Ich will erfahren was passiert ist, will an der Einschätzung dieser neuen Bedrohung mitwirken. Die Stimme der Vernunft hält mich schließlich davon ab. Beim Aufstehen durchzuckt mich erneut ein heftiger Schmerz von den Fußspitzen bis unter die Schädeldecke. Ich beschließe mich bis zum Mittag in Geduld zu üben. Beim Abwaschen meines Geschirrs fällt mir auf, dass die Tische um mich herum noch gut gefüllt sind. Offenbar steckt die vergangene Nacht noch vielen in den Knochen. Hier und da winken mir bekannte Gesichter zu, als ich hinausgehe. Unentschlossen schlendere ich auf dem Hof hin und her. Zuerst tragen mich meine Beine zum Tor. Einige Menschen die gut Handwerken können, schweißen davor an einem robusteren Tor. Auf der alten Palisade, die vor einigen Tagen noch als Spielplatz für die Kinder gedient hatte, patrouillieren bewaffnete Wachen einer Schutzgruppe. Ich nicke ihnen gedankenverloren zu und laufe entlang der Palisade zum See. Jenseits der alten Holzkonstruktion liegt der Abhang und dahinter der Wald, aus dem in der letzten Nacht die Faschisten gekommen waren. Angriffe dieser Art waren nicht neues. Früher hatten sie häufiger versucht die Black Cat zu überennen, Gefangene zu nehmen oder Ernteerträge zu klauen. Aber das war mindestens zwei Jahrzehnte her. Die anhaltende Gewalt in den Städten war einer der Gründe gewesen, warum wir uns hier her zurückgezogen hatten. Als die Staatsmacht immer brutaler gegen die Proteste vorging und selbstorganisierte Projekte zerschlug, stellte uns das vor die Frage, wie wir uns verteidigen konnten. Wenn uns die Polizei angriff hatten wir uns auch vorher schon gewehrt. Wir hatten Steine und selbstgebaute Brandsätze geworfen. So mancher griff auf eine Zwille zurück. Aber gegen die Drohnen, voll gepanzerte Cops, Soundkanonen und die damals neu entwickelten Walker kamen wir nicht an. Einige kleinere Gruppen besorgten sich Schusswaffen und lieferten sich Schießereien. Aber auch das verschaffte uns nur wenige Wochen einen Vorteil. Ausgelöst durch den Tod mehrerer Mitstreiter begann eine breite Diskussion um die Militanz. Eine Diskussion die die älteren unter uns auch vorher schon immer wieder geführt hatten, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Bei einer illegalen, aber länger vorbereiteten Demonstration gegen die Einführung des „Rückführungsgesetzes“, mit dem die Polizei quasi wahllos Menschen die hier nicht geboren waren, abschieben konnte, kam es zu einer Explosion in einem Regierungsgebäude. Die Polizei ging davon aus, dass die Explosion durch die Demonstranten verursacht worden war und eröffnete das Feuer. Ich hatte mit anderen Menschen aus meiner politischen Gruppe einen Lautsprecherwagen geschoben und konnte mich hinter ihm verstecken. Meine Füße hatten mich zum See geführt. Der leichte Wind kröselte die Oberfläche. An einem Baumstamm, der vom Ufer ins Wasser ragte brachen sich kleine Wellen und wurden ein Stück zurückgeworfen, bevor sie von anderen erneut gegen den Stamm gedrückt wurden. Das Bild der sich brechenden Wellen vermischt sich mit den Bildern in meiner Erinnerung: „Bleiberecht, überall, kein Mensch ist ille…“ Ein ohrenbetäubender Knall, gefolgt von einer Druckwelle ertönte. Ich riss die Hände vor meine Ohren. Alles klang auf einmal dumpf. Menschen schrien auf. Mein Blick wanderte über die Demonstranten hinter mir. Was war das? Hatte jemand einen Böller gezündet? War eine Tränengasgranate explodiert? Mein Blick wanderte weiter über die Häuserdächer. Hatte vielleicht jemand etwas herunter geworfen? Schräg vor mir quoll dichter Rauch aus einem Betonklotz. War das nicht das Büro der Ausländerbehörde? Die dumpfe Akustik wich einem penetranten Fiepen. „Rick, komm schon, schnell weiter!“ Das war Hussein. Er schüttelte mich an der Schulter. Die Demonstranten zogen um uns herum weiter, einige waren in einen Laufschritt verfallen. Ich konzentrierte mich wieder auf den Wagen. Wir schoben weiter, während über uns das helle Surren der Drohnen zu hören war, die zum Ort der Explosion flogen. „Bleibt dicht zusammen. Da drüben in der Ausländerbehörde hat es offenbar gerade geknallt. Wir ziehen jetzt weiter zum Ort der Abschlusskundgebung.“, tönt eine Stimme vom Wagen. Was dann folgte geschah aus heiterem Himmel. Schatten rannten an mir vorbei und schrien. Sie kamen an den eingeharkten Demonstranten nicht weiter und wurden zurückgeworfen „Die greifen an.“ Noch mehr Leute um mich herum harkten sich unter. Es knallte wieder. Aber diesmal waren die Geräuschquellen näher. Viel näher. Über die Köpfe der anderen hinweg sah ich in die Läufe von Pistolen und Gewehren. „Runter!“ Hatte ich das gerufen? Ich weiß es nicht mehr. Ich ließ mich fallen. Hussein landete eine Handbreit neben mir. Vor meinem Kopf mir ragten Leas Stiefel auf. „Lea, komm runter!“, schrie ich und zog an ihrem Hosenbein. Unsanft landete sie auf meinem Rücken. Zeitgleich fiel neben sie noch eine weitere Gestalt. Der Körper der Gestalt schlug gegen die Heckseite des Wagens und rutschte daran herunter. Ich versuchte zu erkennen wer es war. Ich drehte mich unter Leas Gewicht ein Stück zur Seite um das Gesicht der Gestalt zu erkennen. Als ich es sah, riss ich die Augen auf. Da wo Augen und Nase sein sollten klaffte ein tiefes Loch. Eine dickflüssige rote Masse topfte auf den Asphalt. Ich war damals dagewesen, als sie begannen auf Demonstrationen zu schießen. Ich hatte das Gefühl der vollkommenen Ohnmacht vor dieser brutalen Gewalt erlebt. Ich hatte den Zorn und das Bedürfnis nach Rache für die getöteten Demonstranten in mir gespürt. Noch am gleichen Abend kam es zu wütenden Demonstrationen in mehreren Städten. Fast überall wurden Polizeistationen, Streifen oder Regierungsgebäude als Vergeltung angegriffen. Aber das brachte uns nicht weiter. In den Wochen danach diskutierten wir in unterschiedlichsten Plenas über die Mittel zur Fortsetzung des Kampfes. Einige Stimmen forderten bewaffnete Demonstrationen zur Abschreckung und um sich wehren zu können. Andere Stimmen waren für die Aufgabe der Großdemonstrationen und sprachen sich für dezentrales Agieren aus. Wieder andere waren der Meinung, dass der Kampf so nicht zu gewinnen sei. Zu einem Konsens kamen wir nicht. Es gab in der Zeit danach Demonstrationen auf denen einzelne Waffen trugen, es gab vermehrt dezentrale Angriffe und direkte Aktionen und es gab Menschen die den Kampf an anderen Orten fortsetzen wollten. Schon vorher hatten wir uns im Kampf gegen die Verschärfung der Gesetze gegen Flüchtlinge nicht nur auf die Städte konzentriert. Gerade in den Dörfern, dort wo der Einfluss und die Angst vor der Staatsmacht noch nicht so groß war, fanden wir solidarische Menschen die Flüchtlinge versteckten und uns mit Gütern unterstützten. Teilweise bildeten sich hier sogar eigene Gruppen die Positionen erarbeiteten. Am Rande eines Dorfes, umlagert von Wald gab es einen alten Bauernhof. Die Besitzer waren aus unbekannten Gründen Jahre zuvor geflohen. Die Natur hatte den Hof zurückerobert. Getreide wuchs mitten auf den Wegen. Hühner, Katzen und Kühe hatten sich wild vermehrt. Wir stießen durch den Tipp eines Dorfbewohners darauf. Während die Auseinandersetzungen in den Städten weitergingen, renovierten und reparierten wir den Bauernhof und schufen einen Rückzugsort für uns. Der alte Maststall wurde zum großen Plenumsraum. Die Unterkünfte für die Feldarbeiter wurden zu Wohnräumen. Die alte Tenne, das Hauptgebäude mit einer großen Scheune wurde zum Büro. Außer Puste von der Anstrengung des Spaziergangs bleibe ich stehen, drehe mich um und schaue zur kleinen Stadt, die um den alten Hof entstanden ist. Dass wir einmal so viele werden würden, hatten wir damals nicht erwartet. Die Häuser derer die uns nach und nach gefolgt waren, reichten mittlerweile bis zum alten Dorf. Dessen Bewohner hatten sich uns angeschlossen als wir ihnen vor vielen Jahren ankündigten, dass wir beabsichtigten uns dauerhaft auf dem Hof niederzulassen und rasch wuchsen. Von ihnen hatten wir fast alles gelernt, was man wissen musste um einen Hof zu bewirtschaften. Der Einfallsreichtum und die handwerklichen Fähigkeiten der Dorfbewohner wurden besonders wertvoll, als die Wirtschaftskrise begann und viele Güter knapp wurden. Mit den Gedanken an den ersten kalten Winter auf dem Hof kehre ich in das Gemeinschaftshaus zurück. Wenn ich schon im Sender heute nicht erwünscht war, dann konnte ich ja beim Essen machen helfen. Beim Essen halte ich Ausschau nach Laura, aber ich kann sie nicht finden. Nur Carl läuft mir kurz über den Weg. Er erkundigt sich nach meinem Befinden und richtet mir aus, dass Laura aus Zeitgründen nicht zu Essen gekommen sei. Als ich lachend zurück in den Hof gehe, blickt er mir ratlos hinterher. Dieses „aus Zeitgründen“, war eine Formulierung die nur von Laura kommen konnte. Früher einmal war sie die ultimative Entschuldigung oder Rechtfertigung gewesen. In einer hektischen, auf Profit ausgelegten Welt, in der jeder seine Zeit maximal ausreizte um sich ein möglichst großes Stück vom Kuchen dieses Profits zu sichern, hatte beinahe jeder Verständnis dafür, dass andere, zumeist private Dinge deswegen nicht gemacht werden konnten. Diese Formulierung war natürlich für heute unsinnig. Laura hatte keinen direkten Nutzen für sich, wenn sie länger das tat, was sie gerne wollte. Sie bekam keinen Lohn, keine Vorteile. Abgesehen von Wissen, Erfahrung und persönlicher Entfaltung. Ich glaube zu verstehen, was sie mir damit mitteilen wollte, dass sie Carl um die Übermittlung dieser Worte gegeben hatte. Gespannt ob ich damit Recht habe, beginne ich den See diesmal in der anderen Richtung zu umrunden. Der Weg führt hinter den Gebäuden des alten Hofs entlang und auf den Hügel mit dem Sender zu. Stellenweise führen Bohlen über kleine Ausläufer des Sees. Nach etwa einer halben Stunde ragt vor mir das verfallene Bootshaus auf. Ich betrete vorsichtig den Steg und lasse mich an einer noch nicht vermoderten Stelle nieder. Mit dem Beinen über dem Wasser baumelnd, erinnere ich mich zurück, während ich warte.

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