Es ist einmal, in gar nicht all zu langer Zeit IX

„Rick?“ Eine dumpfe Stimme dringt wie aus weiter Ferne an mein Ohr. Ich öffne die Augen. Grelles Licht flutet durch meine Pupillen. Ein stechender Schmerz zwischen den Schläfen ist die Reaktion auf die Reize. Alles um mich herum dreht sich. Oder drehe ich mich? Ich versuche mich aufzurichten und merke wie ich zur Seite wegsacke. Jemand stützt mich. „Bleib lieber liegen. Du hast dich sauber auf deine klapprigen Knochen gepackt.“ Da ist sie wieder, diese raue Stimme mit der derben Ausdrucksweise. Derb? Wieso assoziiere ich gerade jetzt dieses alte Wort mit der sprechenden Person. Alt? Meine Gedanken springen. Das kann nur Tom gewesen sein. Ich blinzle mehrmals. Langsam schärft sich mein Blick. Es ist tatsächlich Tom, der sich über mich beugt. Eine Deckenleuchte strahlt auf mich herab. „Was ist passiert? Wo bin ich?“ Versuche ich zu sagen und spüre etwas flüssiges in meinem Mund, dass mich beim Sprechen behindert. Es schmeckt nach Eisen. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und spucke. Eine zähflüssige rote Masse tropft auf den Boden. Mein Blut. „Du bist in deinem Bett. Du hast dir deinen Dickschädel ziemlich übel angestoßen.“, antwortet mit Tom.  Einzelne aufeinander folgende Bilder flimmern durch meinen Kopf. Wie ein Daumenkino bei dem jemand immer wieder mehrere Seiten herausgerissen hat. Der Platz vor dem Tor, Blitze und Schüsse im Wald,  die Drohne, die Walker, rennende Menschen, Panik in mir, der stürzende Lieferwagen und dann die Dunkelheit. Daumenkino? Wie komme ich jetzt bloß auf so etwas? Was ist los mit meinem Kopf. Wieso greift er auf so alte Assoziationen zurück. Das Stechen zwischen den Schläfen wird wieder stärker. Ich versuche dagegen anzukämpfen und presse die Augen zu. Irgendetwas Wichtiges habe ich vergessen. Irgendwas war mir so wichtig als ich auf dem Platz stand. Etwas das mich beunruhigt hat. Wieder folgt die Bilderflut, als hätte ich den gleichen Film noch einmal in den VHS-Player gelegt. „Was zur Hölle ist passiert?“, frage ich. „Das habe ich dir schon zwei Mal gesagt“. Wieder Toms Stimme. Diesmal wirkt sie genervt. Du hast eine Gehirnerschütterung oder so. Ruh dich aus.“ Hab ich das eben schon mal gefragt? Was ist los mit mir? Ich muss nach irgendwas schauen. Nach irgendwem! Das war es! Ich hatte jemanden gesucht! Ich versuche mich aufzurichten. „Rick, jetzt ist es langsam mal gut!“ Ich spüre Toms Hand auf meiner Brust. „Du bleibst jetzt hier liegen. Sonst klappst du mir nochmal zusammen. Ich hab keine Lust dich ins Bett zurück wuchten zu müssen!“ In Toms Stimme schwingt jetzt etwas Bedrohliches mit. Okay,  bei der Auseinandersetzung würde ich jetzt garantiert den Kürzeren ziehen. Ich hatte doch jemanden gesucht? Irgendwo in diesem Chaos hatte ich jemanden gesucht. Jemanden, der mir wichtig war, jemanden um den ich mir Sorgen gemacht hatte. Von draußen höre ich laute Rufe, die durch das offene Fenster hereindringen. Toms Hand verschwindet von meiner Brust. Ich höre wie er durch das Zimmer zum Fenster geht. „Was ist da los?“, bringe ich mühsam hervor. Nur mit größter Anstrengung kann ich die Worte formen. „Die haben noch weitere Leute gefunden.“ Meine Arme und Beine fühlen sich plötzlich so schwer an, als würden sie am Bett kleben. „Leute gefunden?“, lalle ich mühsam. „Ja. Leute gefunden.“, bestätigt mir Tom. Es knackt. Zeitgleich spüre ich die linke Seite an meinem Bett etwas nachgeben. Etwas weiches rundes berührt mich an der Hüfte. Meine Augenlider heben sich einen Spalt weit. Tom sitzt auf der Bettkante. Seine braunen Augen blicken unter dem langen weißen Haarschopf besorgt zu mir herunter. „Gottverdammt Rick, Laura geht es gut. Das ist es doch, was du wissen willst. Oder? Und jetzt schlaf endlich!“ Ich versuche noch mit dem Kopf zu schütteln, doch da umfängt mich die Dunkelheit erneut. Mein Kopf wechselt zurück in den Wartungsmodus.

Schon wieder diese Sirene! Als ich meine Augen öffne scheint die Sonne in mein Zimmer. Ich brauche eine ganze Weile bis ich begreife, dass mich die Sirene diesmal nur zum Essen ruft. Mit einem Mal kann ich mich wieder an die Nacht erinnern. Der Angriff, meine Suche nach Laura, daran wie mich Tom zur Seite gezogen hat. Wie ich in diesem Bett lag, völlig durcheinander. Ich richte mich auf und schwinge die Beine aus dem Bett. Ein Schmerz durchzuckt mich. Meine linke Körperhälfte glänzt grün-bläulich.  Vorsichtig gehe ich zum Fenster und blicke hinaus. Die beiden Lieferwagen liegen zerbeult neben dem Eingangstor. Ein provisorisches Tor aus zusammengeknotetem Holz und Metall lehnt zwischen den alten Pfeilern, die früher einmal das Grundstück begrenzt haben. Auf dem Platz vor dem Gemeinschaftshaus stehen kleinere Grüppchen und reden. Ein stetiger Strom betritt und verlässt das Gemeinschaftshaus. Noch immer etwas betäubt von den vielen Gedanken humple ich mit meinem Digitalen Assistent ins Badezimmer. Während ich mir die Zähne putze und meine blaue linke Gesichtshälfte im Spiegel mustere, spielt mir das Gerät eine Nachricht von Laura vor. Mein Herz schlägt schneller, als ich ihre Stimme höre. „Hallo Rick, ich hoffe dir geht es besser, wenn du das hier hörst. Wir gehen davon aus das du in den Sender kommen willst, wenn du wieder auf den Beinen willst. Lass das! Ruh dich aus. Geh zum See. Nimm dir Zeit. Ich habe von Lea gehört das du mich gesucht hast. Mir geht es gut. Wir arbeiten den Abend gerade auf. Wenn du willst, triff mich heute Mittag am alten Bootsanleger.“ Ihre Stimme erlischt. Eine andere Stimme erklingt. „Eine angehängte Datei. Datei öffnen?“ „Datei öffnen!“, weise ich das Gerät an, bevor ich die Zahnpastareste mit geronnenem Blut ausspucke. „Solidaritätsaktionen Faschistischer Gruppen mit der US-Armee werden in dieser Nacht in vielen Regionen gemeldet. Auch die Black Cat…“ Ich erkenne Sarahs Stimme. Die angehängte Datei war offenbar ein Ausschnitt aus einer nächtlichen Radiosendung. Gebannt höre ich ihr zu, während ich zum Frühstück gehe.

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