Es ist einmal, in nicht all zu langer Zeit… VI

„LFNA bestätigt Kommandooperation behind  combatline –Atomwaffen offenbar gesichert.“ Wieder schalte ich mich in die Redaktion. „Woher kommt die Info?“, frage ich Carl. „Das kommt direkt aus der Pressestelle der LFNA. Wir stellen gerade Nachforschungen an.“

Als mittags die Sirene über die Kommune halt und zum Mittagessen ruft, verabschiede ich mich vom Publikum und trete haareraufend vor den Sender. „So einen stressigen Tag hatten wir seit Jahren nicht mehr, oder?“ Laura schwingt sich auf eines der herumstehenden Fahrräder. „Nicht mehr seit den Straßenkämpfen in Dortmund, als sich die Nazis auflehnten.“ Wir rollen den Hügel hinab. „Was glaubst du, wie geht es jetzt weiter in Nordamerika?“, frage ich Laura, nachdem wir die Bäckereien passiert haben. „Jetzt wo der US-Armee das ultimative Drohmittel fehlt? Nun, ich glaube die werden kapitulieren und den Weg für eine Wahl über die Zukunft freimachen.“ Vor der Schule bremsen wir ab und schieben die Räder. „Ich kann mir immer noch nicht vorstellen das die USA nun libertär wird.“, gluckse ich. Kinder strömen an uns vorbei zum Essen. Über ihre lauten Rufe hinweg antwortet mir Laura. „Wir können uns das nur schwer vorstellen.“ Sie betont das wir. „Für die Kinder hier ist das einfach nur ein weiterer Name einer Region – und nicht das Hauptland des Kapitalismus.“ Sie verzieht beim letzten Wort das Gesicht. „Die älteren von ihnen verbinden es vielleicht mit Emma Goldman oder Heymarket.“ Der Name Goldman, einer libertären Vordenkerin liegt mittlerweile für mich vermutlich eben so weit weg, wie für die Kinder Begriffe wie USA oder Kapitalismus. Die Denkansätze und Theorien, die wir vor vielen Jahren gelesen hatten und mit ihnen träumten, waren Großteils in der Vergangenheit geblieben. „ Die Harmonie des organischen Heranwachsens ist es, die die Vielfalt der Farbe und Gestalt schöpft – all das,  was wir in der Blume bewundern. Ebenso wird das organisierte Handeln freier Menschen, die vom Geist der Solidarität getragen sind, in die vollkommene soziale Harmonie einmünden  – und dies ist Anarchie.“, murmele ich ein Textfragment vor mich hin, dass mir in Erinnerung geblieben ist. „Von wem war das?“, fragt Laura, während wie die Räder am Unterstand neben dem Gemeinschaftshaus abstellen. „Emma Goldman.“, sage ich. „Du siehst, die Namen sind vielleicht in Vergessenheit geraten, aber die Ideen die sie hatten sind Realität.“ Sie tritt an mich heran und drückt mir einen Kuss auf die Lippen. „Soziale Harmonie?“, frage ich und greife nach ihrer Hand. „Ich weiß nicht ob die Realität ist“, gebe ich zu bedenken. Hand in Hand treten wir in den Speisesaal. „Natürlich ist nicht immer alles harmonisch, natürlich streiten wir uns und haben Konflikte, aber es gibt keinen Neid mehr, keine Konkurrenz. Menschen werden nicht mehr dazu gezwungen ein bestimmtes soziales Verhalten gegenüber anderen zu zeigen. Was ist das, wenn nicht Harmonie?“ Wir ziehen eine Karte und warten bis wir unser Essen abholen können. „In unserer kleinen Kommune mag das stimmen, aber wenn ich an Nordamerika denke…“ Die Kinder fließen wie der Strom eines aufgestauten Baches an uns vorbei in die Halle. „..Ich meine, Anarchistinnen und Anarchisten kämpfen da mit Waffengewalt und was man aus Dresden und von der tschechischen Förderration so hört, scheint sich da Widerstand zu regen. Da wollen wieder Leute einen Nationalstaat.“, rege ich mich auf. Meine Nummer erscheint auf der großen Anzeigetafel. Heute gibt es mehrere Gerichte zur Auswahl. Ich entscheide mich für Kartoffelgestampftes mit Apfelmus und Bratlingen und suche einen freien Platz in der sich füllenden Halle. Von einem Tisch am Eingang winken mir Laura und Vanessa zu. Kaum habe ich mich gesetzt, fragt Vanessa. „Erzählt ihr weiter von früher? Ihr wart beim Fall der Demokratie stehen geblieben.“ Ich werfe Laura einen amüsierten Blick zu. „Ich würde nicht sagen, dass die Demokratie gefallen ist“, beginne ich. „Vielmehr haben die Menschen sich für andere Ideen geöffnet und Demokratie weiterentwickelt. Sie haben nicht mehr mitbestimmt in dem sie anderen gesagt haben, dass sie über die Menschen bestimmen sollen. Viel mehr haben sie selber angefangen über sich selbst zu bestimmen. Das fing bei den verbotenen Protesten an. Dann kamen die selbst organisierten Zentren, Kneipen und Krankenhäuser. Gefallen ist damals der Kapitalismus.“ Vanessa und einige weitere ältere Kinder und Jugendliche hören mir gespannt zu. „Wir haben heute in der Schule darüber gesprochen. Über den Kapitalismus.“, erklärt Vanessa. „War es wirklich so schlimm?“, fragt ein Junge, der gerade seinen Teller mit anderen Kindern teilt. „Was haben Lea und Hussein denn erzählt?“ Laura steht auf und wuschelt mir durch die langen Haare bevor sie zum Tresen geht. „Naja, dass ihr morgens in irgendwelche Büros von Firmen gegangen seid, 8 Stunden gearbeitet habt, damit die Firmenbesitzer Geld verdient haben und dann nur wenig Lohn bekommen habt.“ Ich schmunzle. Das klingt ganz nach etwas, dass Hussein gesagt haben könnte. „Ja, das war wirklich in vielen Fällen so. Aber bei vielen waren es auch mehr als 8 Stunden pro Tag. Das nannte man dann Überstunden. Als hätten wir die über gehabt und verschenkt.“ Ich bemerke die Bitterkeit in meiner Stimme und esse einen Löffel Kartoffelbrei mit Apfelmus. „Ihr habt freiwillig länger gearbeitet?“ Der Junge lacht ungläubig. „Wir brauchten Geld zum Überleben. Wir haben wenig verdient und die Stunden die wir da mehr saßen haben uns ermöglicht von dem Geld Dinge zu kaufen die wir dringend brauchten.“ „… Oder von denen wir dachten, dass wir sie brauchten.“ Laura war wieder da. „Das war damals eine Gesellschaft in der du Ansehen bekommen hast, wenn du dir mehr oder besseres kaufen konntest als andere.“ Sehnsüchtig schaue ich auf Lauras Teller. Warmer Apfelstrudel mit Vanillesoße. „Also mehr arbeiten und weniger Zeit für das was ihr aus eigenem Antrieb tun wolltet, damit ihr bei euren Mitmenschen besser ankommt?“, fasste der Junge zusammen. Wir lachen gemeinsam. „Das klingt total absurd für euch, oder?“, frage ich über das Lachen der Kinder hinweg. „Schon ziemlich.“, sagt der Junge. „Für uns war das damals der Alltag.“ Lauras Stimme klingt verstört. „Das ist echt kaum noch vorstellbar.“ Vanessa spielt an ihrem Digitalen Assistenten herum. „Wolltet ihr nicht noch was zum Fall des Kapitalismus erzählen?“ Mein Blick fällt durch die großen Glasfenster auf den Platz vor dem Gemeinschaftshaus. Eine größere Menschentraube hat sich gebildet. Einige Menschen wirken zornig und rufen etwas. „Ich bin nachher in der Kochgruppe. Kommt doch vorbei, dann reden wir da weiter.“, sage ich und stehe auf.  Was war da draußen los? Eilig Wasche ich mein Geschirr ab und strebe nach draußen, auf die Menge zu.

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