Es ist einmal, in nicht all zu langer Zeit… IV

 

„Von nun an waren Versammlungen auf der Straße verboten. Wenn mehr als drei Leute auf der Straße standen, konnten sie von der Polizei verhaftet werden. Zeitgleich verabschiedete das Parlament ein weiteres Gesetz, dass es erlaubte Menschen die nicht aus diesem Land kamen zu verhaften und in die Länder aus denen sie herkamen zurückzuschicken. In diesen Tagen war überall auf der Straße Polizei zu sehen, die Menschen kontrollierte und verhaftete.“ Kilian blättert noch immer im Album. Er zeigt auf einen ausgeschnittenen Zeitungsartikel mit einem Bild darüber. Schwarzgekleidete Demonstranten die eine Kontrollstelle angreifen. „Haben sich die Leute denn dagegen gewehrt?“, fragt er schließlich. „Am Anfang nicht. Alle waren eingeschüchtert und wie gelähmt. Es gab natürlich trotzdem Demonstrationen. Aber auch die wurden von der Polizei niedergeschlagen. Nach einigen Wochen gab es Aufrufe sich in den Abendstunden zu versammeln. Am Anfang waren es nur bereits politisch organisierte, die sich nachts versammelten und demonstrierten In der Aktionsform sogenannter schwarzer Blöcke. Die Leute kleideten sich komplett in schwarz und vermummten sich um nicht erkannt zu werden. Sie demonstrierten jede Nacht solange als geschlossene Gruppe bis die Polizei kam. Wenn die Polizei dann kam, versuchten sie die Polizisten zurückzudrängen. Klappte das nicht zogen sie in Kleingruppen los und starteten Aktionen.“ „Und was haben die anderen Menschen gemacht?“ Vanessa steckte ihren digitalen Assistenten weg und warf einen morschen Ast ins Feuer. Er knackte, als die Flammen ihn umschlossen. „Viele Menschen lehnten die Gewalt ab, die Demonstranten nutzten um sich zu wehren. Aber sie verurteilten auch nicht die Polizeigewalt. Trotzdem fanden sie es nicht richtig, was die herrschenden machten. Einige dieser Menschen machten Straßentheater, schrieben Flugblätter. Andere waren zu verängstigt zu überhaupt etwas zu tun. Die Zentren in denen wir uns trafen wurden in diesen Tagen zu einem Anlaufpunkt für viele Menschen die unzufrieden waren. Tagsüber diskutierten wir die Möglichkeiten des Widerstandes, nachts gingen wir auf die Straße. Dabei kam es auch immer wieder zu blutigen Zusammenstößen mit Nazigruppen, die im Schutz der Nacht Jagd auf Flüchtlinge machten. Die Menschen, die in unsere Zentren kamen, lernten schnell unsere Art der Organisierung zu schätzen. Keine Anführer, die Basisdemokratie und das solidarische Miteinander. Daraus entstanden viele kleine Projekte. Mehrere Stadtteilküchen, in denen für die Menschen gekocht wurde, die sich kein Essen leisten konnten, ein Krankenhaus, ursprünglich als Notstation für die, die bei den nächtlichen Kämpfen verletzt wurden, behandelte tagsüber Menschen ohne dafür Geld z nehmen, oder lästige Fragen zu stellen. Die vielen kleine Projekte waren untereinander bestens vernetzt. Tauchte irgendwo Polizei auf, gab es schnell Telefonketten, oder Kurznachrichten über das Internet. Die Polizei traute sich bald auch tagsüber nicht mehr in bestimmte Viertel. Und wenn doch, dann agierten viele Menschen vernetzt und passten aufeinander auf. Ich blättere das Album um und zeige ein Bild von einer Straße mitten in der Stadt. In allen Hauseingängen stehen Kisten. „Sobald die Polizei anrückte stellten Leute Wasser gegen das Tränengas und kleine Snacks zum Essen raus. Oder steckten die Haustürschlüssel von außen ins Schloss, so dass Menschen in die Häuser flücjhten konnten.“ Vanessa runzelt die Stirn. Ein weiterer Ast landet im Feuer. „Jetzt weiß ich endlich warum ihr Alten so gerne schwarze Sachen tragt. Aber wie wurde das demokratische System dann letztendlich besiegt?“ Ich tausche einen kurzen Blick mit Laura und stehe auf. „Muss mal eben ein paar Meter gehen.“, sage ich. Mit schnellen Schritten lasse ich das Feuer und die Menschen hinter mir. Ihre Stimmen hallen über den See. Nach fünf Minuten drehe ich mich um. Das Feuer ist zu einem kleinen Lichtpunkt geworden, Schatten bewegen sich davor. Mir wird kalt. Am Feuer hatte ich nicht bemerkt wie frisch es mittlerweile geworden war. Fröstelnd lehne ich mich an das Wrack eines verrosteten Autos. Während wir von der unruhigen Zeit damals erzählt haben, hatten wir die meisten Schwierigkeiten ausgelassen, fällt mir auf. Die endlosen Diskussionen. Das Zögern. Alles klang so romantisch und idyllisch. Genau so hatten mir damals meine Eltern von den Studentenprotesten erzählt. Vom Widerstand gegen die Atomkraftwerke. Jene Betonmonster, die selbst heute noch als Sperrzonen überall herumstanden und verrotteten. Ich sehe die Lichter der Siedlung, die sich im Wasser spiegeln. Hunderte kleine Lichtpunkte. Vor fast einem halben Jahrhundert war es hier dunkel gewesen. Nur die Lichter der Polizeihubschrauber waren am Himmel gewesen, in der Nacht als wir uns hierher zurückzogen. Damals nannten wir den alten Bauernhof Black Cat. Ich hatte Kilian und Vanessa verschwiegen, dass wir es waren, die sich eingezäunt hatten. Wir waren es gewesen, die bewaffnet am Zaun patrouillierten. Die Kiste in der ich das Album all die Jahre aufbewahrt hatte, war damals mit Munition. Leuchtspurmunition zum Abwehren der Wasserwerfer und Räumpanzer und um die anderen Siedlungen zu warnen und zur Hilfe zu rufen.  Ich hatte ihnen verschwiegen wie viele Mitstreiter in den Auseinandersetzungen getötet worden waren. Wir hatten hier befreite Gesellschaft gespielt, als andere in den Städten noch kämpften und sich wiedersetzten. Bevor die Wirtschaftskrise kam und so viele mit sich in den Abgrund riss.  Bevor tatsächlich unsere Ideen und Ideale erst als machbare Alternative erschienen. Nicht wir waren es gewesen, die sich durchgesetzt hatten. Der Kapitalismus hatte sich letztendlich selber verschlungen. Und Regierungen und Staaten vernichtet.

Ich laufe zurück zum Lagerfeuer. Lautlos zieht über mir ein Lastenzeppelin hinweg und setzt zur Landung an. „Ich geh ins Bett. Morgen ist auch noch ein Tag.“, verabschiede ich mich am Feuer. „Nehmt ihr die Kiste nachher mit?“  Das Zeppelin geht in den Sinkflug und schwebt über das Gemeinschaftshaus hinweg, bevor es am Landeplatz festmacht. Sofort beginnen Menschen mit dem Austausch verschiedener Güter. Getreide, Backwaren, Kunstobjekte und andere Dinge werden eingeladen. Andere Lebensmittel und Werkzeuge ausgeladen.  Im Zimmer schlüpfe ich unter die Bettdecke und schließe die Augen, in der Hoffnung die Gedanken an früher abschütteln zu können.

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