Es ist einmal, in nicht all zu langer Zeit… V

Am nächsten Morgen bin ich schon wach, bevor die Erntesirene alle zum Frühstück ruft. Jetzt in den Sommermonaten ist besonders viel auf den Feldern zu tun. Das Getreide muss gemäht, abtransportiert und gemahlen werden. Das Bäckereisyndikat wartet darauf Material für Backwaren zu bekommen. Das heißt auch ich sollte früh raus. Schließlich wollen die Menschen der Kommune bei dem was sie tun unterhalten werden. Müde schlurfe ich in den Waschraum und erledige die Morgentoilette. Leise schleiche ich die knarrende Treppe hinab auf den Hof. Die Sonne steht noch tief und taucht alles in ein rot-goldenes Licht. Der Himmel ist wolkenlos und schon jetzt ist es angenehm warm.  Ich schlurfe über den Hof. Vereinzelt sehe ich müde Gestalten, die zum Gemeinschaftshaus gehen. Ich mache einen kleinen Umweg zum See. Die Reste des Lagerfeuers vom vergangenen Abend qualmen noch. Im Gras daneben liegen die Skulpturen, die die Kinder aus alten Zäunen und Autoteilen gemacht haben. Der See liegt ruhig da. Zwei Kraniche stehen am Ufer und mustern mich, als ich näher komme. Mir kommt das Gespräch von gestern Abend wieder in den Sinn. Die Geschichten von früher. Geschichten aus einer anderen Welt. Wie Märchen müssen sie für Kilian, Vanessa und die anderen geklungen haben, die diese Zeit nicht erlebt haben. Eine Zeit voller Druck, Angst und täglichem Kampf. Eine Zeit voller Unsicherheit und Zweifel. All das liebt so unglaublich lange zurück. Mit diesen Gedanken im Kopf steuere ich auf das Gemeinschaftshaus zu. Die lange Halle war früher einmal eine Mastanlage für Legehennen gewesen, bevor der Bauernhof aufgegeben wurde. Wir hatten die Hühner auf eine freie Fläche daneben umgesiedelt und das große Gebäude umgebaut. Ein zweites Stockwerk war oben drauf gebaut worden. Zwei kleine Gebäude als Anbau daneben. Nun gab es neben einer großen Halle zum Essen und für Versammlungen auch kleinere Räume für Gruppen. Die Syndikate trafen sich dort. In den ersten Jahren hatte dort auch der Schulunterricht für die Kinder der Kommune stattgefunden. Bald waren es so viele, das wir dafür ein eigenes Gebäude gebaut hatten. Ich stoße die Tür auf und trete ein.

An den langen Tischen sitzen nur vereinzelt Menschen, die frühstücken. Ich freue mich als ich den Zeitungsstapel neben dem Tresen sehe. Das morgendliche Luftschiff war heute besonders früh dran und hatte Zeitungen aus den anderen Kommunen mitgebracht. Als der Luftschiffverkehr entstand wurde die erste Verbindung in der Kommune „Morgenschiff“ genannt. Viele Menschen witzelten damals, dass es eher nach dem morgendlichen Toilettengang klang. Die Menschen, die die den Landeplatz betreuten hatten die Bezeichnung 1 V etabliert. Als Abkürzung für die 1. Verbindung des Tages. Ich klemme mir eine Ausgabe der „Graswurzel“ unter den Arm und belade meinen Teller mit Brötchen und Aufstrichen. Dann zapfe ich mir einen Kaffee aus einer großen Kanne. Die üblichen Frühaufsteher hatten der Küchengruppe für diesen Morgen schon einige Aufgaben abgenommen und Essen vorbereitet. Ich steure auf einen Platz in der Mitte des Saals zu, wo schon andere sitzen. Ich   bin morgens  vor dem ersten Kaffee nie besonders gesprächig. Aber ich bin Neugierig was die die Leute gerade bewegt Eine Gruppei Fahrer der Erntefahrzeuge nickt mir stumm zu, als ich mich setze und die Zeitung aufschlage. „…müssen heute Abend unbedingt nochmal über die Wertfestsetzung des Roggens sprechen. Wir haben dieses Jahr einen hohen Ertrag, aber die Silos sind schon fast voll. Der Überschuss muss ja auch irgendwo hin…“, nimmt eine Fahrerin das Gespräch wieder auf. Gedanklich notiere ich mir das Thema.  Der Kaffee ist stark. Verdammt stark. Ich schlage die Zeitung auf. Auf der ersten Seite ist ein Artikel über den Kampf der Libertären Föderation Nordamerikas gegen die Vereinigten Staaten. Wieder hatte es Kämpfe gegeben. Ich ziehe meinen digitalen Assistenten aus der Tasche. Das handflächengroße Gerät hatte vor fast zwei Jahrzehnten den Kampf zwischen Smartphones und Laptops beendet. Ich richte den Sensor kurz auf die Titelseite der Zeitung und speichere den Text zur weiteren Bearbeitung im Speicher meiner Datenwolke. Während ich umblättere und in mein Brötchen beiße ertönt die Erntesirene. Als die Kommune gegründet wurde, kündigte die Sirene Gefahr an. Gefahr vor angreifenden Nazigruppen, oder vor der Polizei. Jetzt in der Erntezeit ersetzt sie den Wecker. Gleich wird es hier voll werden. Ich esse mein zweites Brötchen und wasche mein Geschirr in einer großen Spüle ab, bevor ich nach draußen trete. Die Sonne blendet mich, als ich nach einem der schwarzen Fahrräder Ausschau halte, die überall herumstehen. An der Rückwand des Gemeinschaftshauses entdecke ich eines. Der Sattel sitzt zwar sehr locker, aber ansonsten ist es noch benutzbar. Ich schwinge mich darauf und radle los. Ich lasse die Wohnquartiere mit ihren bunt bemalten Fassaden und den Spielplätzen hinter mir und radle auf die  Schulgebäude zu. Lea und Hussein, zwei der Lehrer sitzen auf einer Bank davor und winken mir zu, als ich vorbeifahre. Sie waren unter den ersten, die hier lebten und die Kommune Black Cat aufbauten. Rechts vor mir tauchen die Bäckereien auf. Eine Ansammlung von Gebäuden aus rotem Backstein, mit schwarzen Schornsteinen. Kisten mit Brötchen und anderen leckeren Dingen werden gerade in einen der Lieferwagen geladen, der sie weiterverteilt.  Ich erkenne Micha unter ihnen. Ein junger Mann den ich häufiger treffe, wenn ich früh auf den Beinen bin. Er winkt mich heran. „Guten Morgen! Hast du schon gefrühstückt?“ Er winkt mit Teigtaschen. Ich bremse scharf ab. „Eigentlich schon.“ Er wirft mir eine Teigtasche herüber. „Die ist  mit Wildhonig und Marmelade gefüllt“, sagt er lächelnd und beißt in die andere. „Hbsch heute mrgn auschprobiert.“, fügt er erklärend hinhzu. Ich lege den Kopf schief. „Das hab ich heute Morgen ausprobiert. Mal was Neues. Dann müssen sich die Leute auf den Feldern nicht extra was schmieren.“ Ich probiere. Die Mischung schmeckt köstlich. „Lecker!“, lobe ich ihn „und das ist ne gute Idee!“. „Kommst du heute Abend zum Konzert?“, fragt er mich. „Wir spielen nach dem Essen.“ Der Lieferwagen fährt unter leisem surren los und wirbelt eine kleine Staubwolke hinter sich auf. „Ich bin heute Abend in der Kochgruppe. Danach komme ich gerne vorbei“, antworte ich. Mein  Digitaler Assistent gibt ein Pfeifen von sich. Entschuldigend nicke ich ihm zum Abschied zu und stecke mir den kleinen Freisprecher hinters Ohr, bevor ich weiterfahre. Dann nehme ich den Anruf an. „Rick? Bist du schon auf den Beinen?“ Es war Lauras Stimme. „ich bin schon auf dem Weg. Was gibt’s?“ Ich trete stärker in die Pedale um den Hügel vor mir hinauf zu kommen. „Die anderen wollen eine Schalte wegen der Bewertung der Nordamerikasache. Die wollen in 20 Minuten loslegen.“ Das Rad kommt ins Schlingern, als ich mehreren größeren Steinen auf dem Feldweg ausweiche. „Okay. Ich bin gleich da. Soll ich die vertrösten bist du da bist?“, frage ich und unterdrücke ein fluchen. „Kannst du mich dazuschalten wenn es was wichtiges gibt? Ich glaub ich leg mich nochmal ne Stunde hin.“ Lachend schalte ich an der Gangschaltung des Rades herum. „Wie lange habt ihr denn gestern noch am See gesessen?“ Laura gähnt geräuschvoll. „Bis 4 Uhr.“ Der zweite Gang will nicht einrasten. Ich trete stärker. „Gut, dann weiß ich Bescheid. Bis später dann.“ Auf der Hügelkuppe  angekommen bremse ich kurz ab und werfe einen Blick  hinter mich. Von hier kann ich die ganze Kommune überblicken. Die Bäckereien beladen gerade einen weiteren Lieferwagen. Vor der Schule sehe ich die ersten Kinder, die hin und her laufen. Dahinter liegt das Gemeinschaftshaus mit den Wohnquartieren darum herum. Im Schatten des angrenzenden Waldes zeichnen sich die Werkstätten und die Garagen des Speditionssydikat ab.  Etwas langsamer fahre ich auf der Hügelkuppe entlang auf die mehrstöckigen Gebäude zu. Der alte Funkturm schimmert silbern im Licht der aufgehenden Sonne. Vor dem ersten Haus stelle ich mein Rad ab. Auf die Fassade ist eine schwarze Katze mit Kopförern gemalt, die einen Buckel macht. Darunter stehen die Buchstaben B C R  – Die Abkürzung für Black Cat Radio. Dem Sender der Kommune. In den ersten Monaten der Kommune wurde von hier ein illegales Radioprogramm gesendet, das Informationen sammelte und weiterverbreitete, ohne das der Staat das Senden unterbinden konnte. Mittlerweile gab es auch ein Fernsehprogramm und eine Webseite mit News, die von hier betrieben wurden. Ich trete durch die Eingangstür und werfe einen Blick durch die Glasscheibe in die Redaktion der Webseite. Die Nachtschicht sitzt müde vor den Computern. Im ersten Stock im Newsraum ist schon ein reger Betrieb. Die Redakteure der Nachtschicht sitzen noch an einer Zusammenfassung der Nachrichten, die in der Nacht hereinkamen. Ich begrüße Carl, einen Transmensch in meinem Alter. „Rick, die anderen sind schon aufgeregt wegen der Sache in Nordamerika. Radio A und ein paar andere Sender hängen schon in der Konferenz.“, ruft er mir zu bevor er in der Küche verschwindet. Ein Beamer wirft dreidimensionale Bilder der anderen Konferenzteilnehmer an die Wand. Ihr Stimmen hallen durch den Raum. „Schieben wir die Redaktionskonferenz nach hinten?“, frage ich während ich Carl in die Küche folge. „Ja.“ Carl reicht mir die Kaffeekanne. „Alle reden nur noch von den Kämpfen. Haben wir für heute noch andere Themen?“, frage ich. „Wir sollten irgendwas über die Ernte bringen. Außerdem haben wir ein paar vorproduzierte Beiträge die wir fahren können.“ Ich nippe an meinem Kaffee.

Zwanzig Minuten später hatte sich die Aufregung gelegt und das Plenum der Sender konnte beginnen. Die Wand hat sich gefüllt mittlerweile sind alle Sender zugeschaltet. Eine Redakteurin vom Freien Sender Kombinat Hamburg berichtet über ihre Rescherchen. „So wie es aussieht gab es in der Nacht eine Offensive der Kräfte der libertären Front Nordamerikas. Es gibt unterschiedliche Meldungen. Aber offenbar ist die LFNA von Ohio und Michigan nach Pittsburgh vorgerückt und hat die kämpfenden Genossen vor Ort befreit. Die US-Army hat sich nach Marryland zurückgezogen. Zeitgleich hat die sozialistische Front Mexikos einen Vorstoß nach Texas gewagt.“ Es wurde kurz still. Jemand blendete über die Projektionsfläche eine Karte ein und markierte die Fläche. Ich überlege ob ich mich einschalten soll. Schließlich drücke ich auf einen Knopf an meinem Platz und trage mich so in die Redeliste ein. „Dann ist die LFNA jetzt verdammt nah an Washington. Meint ihr die werden jetzt Nuklearwaffen einsetzen?“ Die Redakteurin vom FSK antwortet. „Die Präsidentin hat angekündigt das sie Washington um jeden Preis halten will. Ich denke wenn der Verstoß darauf beginnt, müssen wir damit rechnen.“ Auf meinem Platz leuchtet ein grünes Licht. Eine 3D-Darstellung meines Oberkörpers erscheint an der Wand. „Ist etwas über die Opferzahlen der letzte Nacht bekannt und meine zweite Frage ist, wie es mit den Sozialisten im Süden aussieht. Gibt es mittlerweile eine gemeinsame Linie von LFNA und SFM?“ Das grüne Licht erlischt. Die FSK-Redakteurin antwortet. „Mit Todeszahlen kann ich nicht dienen. Ich will da auch nicht spekulieren. Offizielle Zahlen gibt es auch noch nicht. Zu deiner zweiten Frage: Hier in LA wird mittlerweile von einem Bündnis gesprochen.“ Ich tippe die Informationen in mein Terminal. Etwas streift meine Schulter. Laura lange braune Haare fallen über meine Schulter, als sie mich zur Begrüßung umarmt. Sie fährt ihr Terminal hoch und ruft mehrere Newsseiten auf. Schnell überfliegt sie die Texte. „Wenn du jetzt doch schon da bist, löse ich mal Sarah ab.“, sage ich und stehe auf. Laura nickt halbherzig, voll auf den Text auf dem Terminal konzentriert.  Ich laufe den Gang hinunter und bleibe vor einem Raum mit einer Glaswand stehen. Im Raum kann ich Sarah sehen, die gerade zwei Regler auf einem Mischpult aufzieht. Ich drücke auf ein abgedunkeltes Display neben der Tür. Es erwacht zum Leben und zeigt zwei Buttons an. „Mithören“ und „Eintreten.“ Ich drücke auf Mithören. Sarahs Stimme dringt aus einem kleinen Lautsprecher am Gerät. „Was genau in Nordmerikas los ist versuchen wir gerade herauszufinden. Bis wir genaueres wissen, geht es mit Musik weiter.“ Sie zieht die Regler wieder herunter und tippt auf einen Bildschirm neben ihr. Ich drücke auf „Eintreten“. Die Tür öffnet sich zischend und schließt sich sofort wieder, nachdem ich den Raum betrete. Es wird still. Die Geräusche von draußen dringen in diesen Raum nicht hinein. „Guten Morgen“, begrüße ich die Moderation, die die Nachtschicht moderiert hat. „Na endlich!“, sagt sie und unterdrückt ein Gähnen. „Wo bleibt Laura?“ Ich setzte mich auf den zweiten Sessel ihr gegenüber und fahre die Technik hoch. „Die sitzt noch im Plenum wegen Nordamerika“, antworte ich und trinke noch einen Schluck Kaffee. „Okay, dann kann ich abmoderieren?“ Ich rücke das Mikrofon zurecht und setzte den Kopfhörer auf. „ich bin so weit.“ Über den Kopfhörer ich die letzten Takte eines alten HipHop-Track. „Ich hoffe ihr werdet langsam wach. Ich mach mich jetzt auf den Weg ins Bett. Durch den Morgen bringt euch jetzt Rick. Bis morgen!“ Sarah nimmt den kopfhörer ab und schaltet das Mikrofon ab. „Guten Morgen!“, sage ich ins Mikrofon. „So ganz wach bin ich noch nicht. Hier sind gerade alle in heller Aufregung wegen der Ereignisse in Nordamerika. Wir versuchen noch einen Überblick über die Meldungen und Gerüchte zu bekommen. Was aber sicher scheint, ist das libertäre und sozialistische Kräfte eine gemeinsame Offensive gegen die US-Armee gestartet haben. Pittsburgh wurde in der vergangenen Nacht befreit. Die Straßenkämpfe der Aktivisten vor Ort gegen die Armee sind vorbei. Im Süden erheben sich die mexikanischen Sozialisten. Texas soll mittlerweile unter sozialistischer Verwaltung stehen.“ Ich mache eine kurze Pause. „Sobald unsere Co-Moderation da ist geht es hier weiter.“ Ich starte eine Wiedergabeliste und lehne mich zurück und trinke einen Schluck Kaffee. Der Kaffee spritzt auf den Bildschirm, als ich die Meldung lese, die gerade erscheint.

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