Es ist einmal in nicht all zu langer Zeit… II

Nach dem Essen verabschiede ich mich kurz von den Kindern und gehe zurück in mein Wohnquartier. Es liegt etwa etwa 200 Meter hinter dem Gemeinschaftshaus, fast am Waldrand. Früher war es mal Teil der Unterkünfte die für Arbeitskräfte auf dem  vormaligen Bauernhof gebaut worden waren. Es war das erste Gebäude das von Menschen instandgesetzt wurde. Während ich die alte Holztreppe hinaufsteige kommen mir Erinnerungen an die unzähligen Stunden in den Sinn, in denen wir hier gearbeitet hatten. Ich betrete das von mir bewohnte Zimmer und ziehe eine alte Munitionskiste unter dem Bett hervor. Die Kiste unter den Arm geklemmt mache ich mich auf den Weg zum See. Auf dem Weg komme ich an den Garagen vorbei. Einige Kinder und Erwachsene laden gerade Autoteile, Holz und Werkzeuge auf mehrere Karren und ziehen sie zum See. Janine winkt mir zu. „Was willst du denn damit?“, fragt sie mich mit argwöhnischer Stimme. Ich gucke auf die Kiste unter meinem Arm, zu ihr und zurück. „Da ist keine Munition drin, nur alte Erinnerungen.“, sage ich und lächle. Am See angekommen laden wir die Karren ab. Etwa 50 Kinder spielen um uns herum, baden im See oder sitzen am schmalen Strand. Janine breitet das Werkzeug aus während zwei andere Erwachsene aus dem herumliegenden Totholz ein kleines Lagerfeuer entfachen. Ich setze mich ins Gras und stelle die Kiste vor mich in den Sand. Wie lange ich die wohl nicht geöffnet habe? 20 Jahre? Oder ist es noch länger her? Neugierig kommen Vanessa und Killian und setzten sich mit dem Bastelmaterial neben mich. Auch andere Kinder umringen mich jetzt. Laura, eine alte Bekannte lässt sich neben mir in den Sand fallen und guckt mich grinsend an. „Ich hab gehört du erzählst von früher?“ ich lächle unsicher zurück. „Kilian und Vanessa haben mich darum gebeten.“ Kilian löst gerade die Schrauben an einem Lenkrad. „Du hättest mich damals ausgelacht wenn ich dir gesagt hätte das du hier mal sitzt und Kindern von damals erzählst.“ Ich muss lachen. „Oh ja! Aber gerade das macht es so schön“ Ich spiele mit dem Verschluss der alten Kiste. „Was hast du da drinnen?“, fragt Kilian plötzlich und blickt auf. „Schau doch mal rein“, sage ich und rutsche zu Laura um mich an sie zu lehnen. Sie legt einen Arm um meine Schulter. Kilian öffnet den Klappverschluss und zieht ein Fotoalbum heraus. Vanessa und Killian schlagen es auf. Eine auch die anderen Kinder schauen hinein. Ein  Bild erregt Kilians Aufmerksamkeit. „Was ist das?“, fragt er und deutet auf das Bild. Es zeigt Menschen vor einem roten Haus. Es ist vollgeklebt mit Plakaten. Vom Dach hängt ein Transparent. Laura grinst mich an. „Das ist ein autonomes Zentrum. Ein Haus das leer stand und das Leute besetzt haben um den Traum von einer anderen Gesellschaf auszuprobieren. In der Gesellschaft in der wir früher lebten war es schwer so zu leben wie wir es uns vorstellten. Deswegen konnten wir das nur in solchen Räumen.“ Vanessa blättert weiter. „Wie wolltet ihr denn leben?“ Vanessa antwortet. „Wir wollten zusammen leben ohne das andere unterdrückt werden, wir wollten Lieben können wen wir wollten und brauchten Räume in denn wir reden konnten und Spaß hatten.“ „Und das ging damals nur da?“, fragt Vanessa. „Ja, es war zum Beispiel vollkommen unüblich, dass manche Menschen nicht nur eine Person lieben. Selbst das man eine Person des gleichen Geschlechts liebte brachte immer wieder Anfeindungen oder offenen Hass.“  Ich strecke meine Beine aus und schaue in den Abendhimmel. „Offener Hass? Was meinst du damit?“, fragt Vanessa mich. Mein Kopf projektiert Bilder an den Himmel, die sich mit dem roten Schimmern der Wolken vermischen. Bilder aus lang vergangenen Zeit. Menschen auf den Straßen, blitzende blaue Lichter, Menschen in Panzerung mit Schildern und schwarzen Stöcken, die Gesichter unter Helmen verborgen. Gepanzerte Menschen die Gewehre abfeuern. Jetzt höre ich auch den Ton zu den Bildern, als hätte jemand den Lautstärkeregler aufgedreht. Laute Schreie, Explosionen, gebrüllte Befehle und die Füße von tausenden auf Asphalt. Tanzende Menschen in bunten Kostümen, eng umschlungen und ausgelassen. Von einer Sekunde auf die andere beginnen sie zu schreien, rennen. Menschen in Uniformen prügeln sich durch eine Menge, schlagen um sich, stoßen die bunten Gestalten zu Boden, zerren sie über den Asphalt. Ein kurzer Blitz. Wieder erscheint eine andere Szene. Es ist kalt. Bitter kalt. Menschen in schwarzer Kleidung mit Rucksäcken, dick eingepackt, die Gesichter unter Kapuzen und Schals gegen die Kälte und unliebsame Objektive verborgen, hasten eine steile Straße hinauf. Hinter ihnen eine johlende Menge, die sie fahnenschwenkend verfolgt, wüste Beleidigungen ausspuckend. Aus dem Hintergrund dröhnt eine blecherne hasserfüllte Stimme. Sie feuert die Menge an, ruft sie auf kurzen Prozess mit diesen Parasiten zu machen. Die kleine Gruppe läuft um ihr Leben. Plötzlich wieder die gepanzerten Gestalten die nun von der Seite ebenfalls auf sie zustürmt. „Rick? Was ist los mit dir? Lauras und Kilians besorgte Gesichter erscheinen da, wo eben noch die albtaumhaften Bilder waren. Schwer atmend richte ich mich auf und stütze mich auf meinen Unterarmen ab. „Es gab damals eine sehr unruhige Zeit.“, sage ich als ich wieder zu Atem komme. „Es wurde irgendwann immer schlimmer. Es gab Kriege in fernen Ländern, Menschen die viel Geld besaßen profitierten davon. Die anderen Menschen bekamen Angst und ließen sich immer mehr Einschränken. Der Staat, also die herrschenden Menschen begannen alle zu überwachen. Zeitgleich wurden immer mehr Hilfen für arme und bedürftige Menschen gestrichen. Die Kosten für Lebensmittel, das Recht irgendwo wohnen zu können und viele andere Dinge wurden immer teurer, die Menschen hatten immer weniger und wurden neidisch aufeinander. Missgunst und Zwietracht brachte sie gegeneinander auf. Diese Situation nutzten einige Menschen aus und hetzten gegen andere. Erst waren es Flüchtlinge aus den Kriegsländern, dann Menschen die kamen weil sie dort wo sie vorher lebten schon verfolgt wurden, dann waren es Menschen die die falschen liebten. Immer wieder gab es Angriffe, Menschen wurden verprügelt weil sie sich küssten oder Händchen hielten, weil sie eine andere Hautfarbe hatten.“ Ich muss schlucken und schaue in die entsetzten Gesichter von Kilian und Vanessa. „Davon hat uns nie jemand etwas erzählt!“, sagt Vanessa mit tonloser Stimme. Kilian steht der Mund vor erschrecken auf. „Und hat da niemand etwas gegen getan?“, fragt Kilian leise. Ich schaue zu Laura. „Doch, die gab es.“, sagt sie dann langsam und blättert im Album bis sie ein bestimmtes Foto findet. Ich beuge mich vor um es zu erkennen und halte für einen Moment den Atem an. Vanessa und Kilian mustern es. „Was machen die da?“, fragt Vanessa und deutet auf den unteren Bildrand. Ich folge ihrem Blick. Zwei Polizisten schlagen mit Schlagstöckern auf eine am Boden liegende Gestalt ein. Um ihre Füße quillt dichter Rauch. „Die nehmen eine Person fest Das bedeutete sie haben ihn eingesperrt.“, sage ich dann. „Aber die verprügeln ihn doch!“, widerspricht Kilian. Ich tausche einen Blick mit Laura. „Manchmal bedeutete damals das eine das andere.“, sagt Laura dann. Darüber denkt Kilian lange nach. Vanessa entziffert einen Schriftzug auf dem Bild. Ein Slogan auf einem Transparent. „Gegen die Diskriminierung von Geflüchteten – Bleiberecht für alle!“, murmelt sie. Laura blättert weiter. Das nächste Bilder zeigt eine ähnliche Situation. Gemeinsam betrachten wir das Bild. „Das war 2015 in Berlin, oder?“, fragt Laura mich. „Ja.“, sage ich. Vanessa kneift die Augen zusammen und rechnet. „Aber da wart ihr ja…“ ich grinse. „Noch sehr jung.“ Ich deute auf die Bildmitte. Schwarzgekleidete Menschen mit Transparenten, in Ketten. Ihnen gegenüber eine Wand aus gepanzerten Formen. „Das war eine Demonstration gegen die Einführung von weiteren Überwachungsgesetzen.“ Ich zeige auf eine Gruppe an einem pinken Seitentransparent. „Da sind Laura und ich.“ Vanessa zückt ihren Digitalen Assistenten und hält die Linse auf das Bild. Auf dem Display erscheint eine vergrößerte Ansicht des Bildausschnitt. „Ihr seht da sehr wütend aus.“, stellt sie dann nüchtern fest. „Das waren wir auch. Aber es kam dann noch schlimmer“, setze ich an.

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