Bei mir begann der Tag heute Morgen mit einem ausgiebigen Frühstück. Im Hintergrund lief Radio. NDR Info – Das Kinderprogramm „Mikado“ hatte heute als Hauptthema den Mauerfall und die DDR. Kurzer Blick auf die Nachrichtenportale. Überall Berichterstattung über die großen Feierlichkeiten. Deutschland feiert den Fall der Mauer. Der innerdeutschen Mauer. Während im Radio ein Mann Kindern die Selbstschussanlagen im „Todesstreifen“ erklärt wandern meine Gedanken an die europäische Außengrenze. Die Mauern hier sind um ein vielfaches höher. Beton, Nato-Draht, mehrere Zäune. Davor patrouillieren Grenzstreifen mit Hunden.
Für mich ist der 9. November mit einem anderen Ereignis verknüpft. Der Reichspogromnacht 1938. Der Beginn der Judenverfolgung. Spontan entscheide ich mich einen Ausflug zu machen und fahre zu einer Gedenkstätte in meiner Nähe. An dem Ort der Gedenkstätte stand einst die Jüdische Gartenbauschule. Später wurde das Gebäude enteignet und von der Gestapo als Gefängnis und Folterkeller genutzt. Bis vor wenigen Monaten erinnerte nur eine Messingtafel an die abscheulichen Verbrechen die hier begangen wurden. Nun wurde eine Gedenkstätte erbaut die an die hier gefolterten und ermordeten Gegner der Nazis erinnert. Es ist noch früh am Sonntagmorgen. Lediglich zwei Rentnerinnen wandern durch die Außenanlage. Nachdem ich einen Stein und ein Teelicht an der Gedenktafel abgelegt habe stehe ich noch einen Moment unschlüssig vor dem Tor durch das die Verhafteten geführt wurden. Mir ist kalt. Trotz morgendlichem Sonnenschein. Meine Gedanken rotieren. Die beiden Frauen haben mich entdeckt. Eine der beiden streckt einen Arm in die Luft. Gerade als ich mich über die Geste empören und sie anschreien will, sehe ich, dass sie die linke Faust in die Luft streckt und den Arm angewinkelt hat. Stumm Grüße ich auf die gleiche Weise zurück. Die beiden kommen auf mich zu. Aber mir ist nicht nach einem Gespräch. Ich mache mich auf den Rückweg. Heute Abend werden tausende vor dem Brandenburger Tor stehen, sich und ihr wiedervereintes Volk feiern, sich über die friedliche Revolution freuen. An einem Tag der den Beginn der Shoah einleitete. Nur wenige Wochen nachdem ein rassistischer und gewalttätiger Mob durch Köln gezogen ist und Jagd auf nicht-deutsche und Antifaschist*innen gemacht hat, nur wenige Tage nach diversen rassistischen Demonstrationen gegen Geflüchtete, nur wenige Tage vor dem vermutlich größten Nazi-Aufmarsch seit Dresden.
Am Abend sitze ich am Laptop und lese von einer weiteren kleinen gewalttätigen HoGeSa-Demo In Berlin und davon, dass in Erfurt CDU, AfD, NPD und Kameradschaften gemeinsam gegen eine rot-rot-grüne Regierung in Thüringen demonstrieren. Mit Fackeln. Am 9. November. Ihr Schlachtruf: Wir sind DAS Volk.
Ich geh kotzen.