Zwischen Matsch, Pfützen und Beton – Die Vergangenheit

Ich laufe mit dem alten Mann den schmalen Feldweg entlang. Der Regen der letzten Wochen hat den Boden aufgeweicht und tiefe Pfützen hinterlassen. Festen Schrittes stapft er durch sie hindurch, während ich immer wieder ausweichen muss, um keine nassen zu bekommen. Rauer Wind weht durch die Äste der kahlen Bäume am Waldrand. Es riecht modrig. Links neben uns liegt ein Acker, die Furchen und Abdrücke der Feldmaschinen sind noch deutlich erkennbar. Auch hier steht das Wasser. Wir reden über früher. Er erzählt mir von seiner Zeit in der HJ, für die er sich sichtbar schämt. Er erzählt mir auch von seinen Freunden aus der Sozialistischen Jugend, die nicht einverstanden waren mit dem was die Nazis taten und nach und nach verschwanden. Ich berichte ihm von dem was ich politisch tue.  Nach einer Weile bleibt er stehen und schaut regungslos auf das Feld. „Da drüben.“, sagt er schließlich. Ich folge seinem Blick. Zwischen zwei Feldern verläuft eine schmale Grasnarbe. Einzelne Kornähren ragen hier und da aus dem Boden. Nach etwa 50 Metern öffnet sich die Grasnarbe zu einer kleinen Wiese. Ein umgestürzter Baum und wild wucherndes Gebüsch bilden eine Insel, mit den Feldern als Meer dazwischen. Ich kenne diesen Ort. Als kleines Kind habe ich hier oft gespielt. Mit dem Fernglas hatten wir uns dort versteckt und die vorbeilaufenden Menschen beobachtet. Sacht setzt er einen Fuß auf die Grasnarbe. Die Schuhsohle sinkt leicht ein. Schließlich geht er zielstrebig auf die Insel zu. In mich hinein fluchend folge ich ihm. Wasser und kalter Matsch durchtränken meinen Schuh. und umspielen meinen Fuß. Auf der Insel angekommen schaut er mich an. Eine undefinierbare Schwere liegt in seinem Blick. „Was siehst du hier?“, fragt er mich. Ich drehe mich um die eigene Achse. „Nichts besonderes. Wald, Felder, da hinten ein paar Häuser und das Dorf, da hinten den Stadtrand.“, sage ich, unsicher worauf er hinaus will. „In etwa das gleiche wie ich vor 70 Jahren.“. Seine Stimme klingt trocken. Vor 70 Jahren? Ich rechne. 1943! „Damals war hier noch ein bisschen mehr Feld und weniger Bebauung. Aber im Grunde hat sich kaum etwas verändert.“ Er schweigt. Scheinbar ziellos scharrt er mit einem Fuß auf den Boden. Kleine Schlammbrocken spritzen auf. Ein dumpfes ‚tock“ ertönt unter seiner Fußsohle. Mein Blick heftet sich auf etwas viereckiges auf dem Boden, dass sich rot-bräunlich schimmernd vom Matsch abhebt. Mit der Fußspitze hebt er es an und schiebt es dann zur Seite. Mit zwei weiteren Platten verfährt er eben so. Verdutzt realisiere ich, was da im Schlamm verborgen lag. Eine betonierte Fläche von etwa 4 mal 4 Metern. In ihrer Mitte ist eine Kuhle in die ich mich hätte setzen können. An ihren Rändern kann ich verrostete Halterungen erkennen, die nach oben gebogen sind. „Was ist das?“, frage ich und schaue ihm ins Gesicht. Er wirkt abwesend. „Das sind die Reste einer FLAK-Stellung.“ Er geht um die Kuhle herum und setzt sich auf den umgestürzten Baum. „Im Oktober vor 70 Jahren haben wir hier gestanden und versucht die Briten abzuschießen, die die Stadt bombardieren wollten.“ Ich versuche mir vorzustellen wie es gewesen sein muss. Ratlos starre ich auf den Beton, der all die Jahre so dicht unter mir gelegen hatte. „Am 8. Oktober Nachmittags gingen die Sirenen das erste mal. Aber es war nur ein Fehlalarm. Wir hatten die Befehl uns beim Sirenenton sofort zu den Stellungen zu rennen. Aber an diesem Nachmittag passierte nichts. Wir saßen hier nur und starrten auf den Wald. Es kam aber auch keine Entwarnung. Niemand von uns traute sich den Posten zu verlassen um zu erfragen ob es neue Befehle gab. Später hat sich dann rausgestellt das sie uns vergessen hatten. Gegen Abend wurde es kalt. 10 Grad höchstens. Gegen 1 hörten wir die ersten Maschinen. Es war nur ein kleines Schwadron. Wir kannten das schon. Wir machten die FLAK feuerbereit und warteten. Als die Flieger dann in Reichweite waren, feuerten wir. Eine Maschine trafen wir am linken Flügel, sie geriet ins Trudeln und ging runter. In einem Halbkreis flog sie auf uns zu und stürzte auf dem Nachbarfeld. Der restliche Verband flog über die Stadt und warf Leuchtkugeln ab. Zielmarkierer. Als wir die bunten Kugeln über der Stadt fallen sahen, wussten wir, dass etwas großes passierte. Kurze Zeit später ertönte ein lautes Dröhnen. Über hundert Maschinen flogen über die Stadt und warfen ihre Bomben ab. Als wir die Feuer in der Stadt sahen, liefen wir davon. Wir wussten das es die Stadt schwer getroffen haben musste. Aber ich empfand keine Trauer. Kein Gefühl. Wir ließen einfach alles liegen. Auf dem Rückweg kamen wir am Wrack des britischen Bombers vorbei. Als wir die Toten sahen, weinte ich. Ich habe danach nie wieder eine Waffe bedient.“

[Der Großteil diese Erzählung ist wahr. Nur hier und da habe ich Teile aus einem anderen Gespräch in die Situation eingefügt.]

Ironischer Weise ist es der gleiche Ort, an dem ich wenige Monate später erneut ein Gespräch führe, dass mich ähnlich bewegt. Ein Gespräch mit einer Frau, die mich besucht. Eine Bekannte, der ich von meinen Erlebnissen aus Hamburg erzähle. In der Abgeschiedenheit, weit weg von anderen Menschen erzählt sie mir von einer dunklen Nacht in Wackersdorf, von Leuchtraketen, Tränengas, Knüppeln, Zwillen und zwei Schüssen, die ihr Leben veränderten. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

 

 

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