Den Überblick verlieren

Ist das alles richtig was wir tun?
Bewirken wir überhaupt etwas?
Macht es Sinn, sich für etwas einzusetzen?
Ist unser Auflehnen nicht einfach nur ein Akt der Abgrenzung zu den anderen?
Fragen, die sich an ruhigen Abenden stellen. Allein sitze ich hier, eine qualmende Zigarette in der Hand, den bitteren Geschmack von Bier auf meinen Lippen. Einfach mal rauskommen, mal nicht im Kreislauf zwischen Job und Politik sein. Rauskommen und abschalten. Aber so einfach ist das nicht.
Ja der Job, die Ausbildung fast beendet, nur noch einen Monat bis zum Wisch mit ein paar Zahlen, die es anderen leichter machen, über dich zu urteilen. Zahlen,die dir bestätigen, dass du jetzt etwas bist. Allein die Formulierung schon. Du bist jetzt deine Berufsbezeichnung.
Ich sitze hier, ziehe an meiner Zigarette und blase den leicht blauschimmernden Rauch in die sternenklare Nacht. So viele Gedanken im Kopf. Die letzten Wochen, die letzten Monate waren Kräfte zehrend. Auf Arbeit und in der Schule immer unter Strom. Im Hinterkopf immer den Druck, etwas schaffen zu müssen, endlich etwas erreichen zu müssen. Nicht für mich, sondern um etwas zu werden. Einen Berufsabschluss zu bekommen, um dann zu arbeiten, mich einzureihen in das Heer der Arbeitstiere. Seltene Höhepunkte waren die Abende im linken Freiraum. Abschalten, rumalbern, gemeinsam träumen. Treffen mit Freund_innen, politische Aktionen. Gemeinsam zwei Nazi-Aufmärsche blockieren. Der eine Versuch endete im Polizeikessel. Eingepfercht und umkreist von grimmig guckenden Menschen in Plastikpanzerung, bewaffnet. Eine Stimme aus einem Lautsprecher, die uns Straftaten vorwirft.  Schwitzen während der Abschlussprüfung. 33 Grad im Raum, der Schweiß tropft auf meine Prüfungsaufgaben, während ich das formuliere, was sie lesen wollen. Es folgt Arbeitsroutine. Dann Bad Nenndorf. Gemeinsam wird der Nazi-Aufmarsch blockiert. Ein Polizist reißt mich aus der Kette hoch, verdreht mir den Arm und drückt auf einen Nervenpunkt an meinem Handgelenk. Ich schreie all meine Wut, all meine Angst vor der Zukunft hinaus, während ein Anwalt die Polizisten anpöbelt. Wieder Arbeitstage, die vor meinem geistigen Auge zu einem einzelnen Strudel verschwimmen. Unterbrochen von zweisamen Nächten voller Schweiß und Leidenschaft.
Eine Fahrt nach Berlin, ausgelöst durch Hilferufe. Etwas, was all diese Tage, all diese verschwommenen Momente gleichsam verbindet sind Meldungen. Nachrichtenmeldungen kann ich sie nicht nennen, denn zumeist tauchen sie nicht in ihnen auf – und wenn dann nur lokal. Rassistische Übergriffe. Leute werden gejagt und zusammengeschlagen, Hakenkreuze geschmiert und Brandanschläge verübt. Keine dieser Wochen verging ohne nicht mindestens eine dieser Meldungen. Mitte August dann eskalierte die Situation in Duisburg und Hellersdorf. Während wir im Auto sitzen und uns schleichend Berlin nähern, fällt mir etwas auf. Schon 2008 habe ich begonnen Dinge aufzuschreiben. Diffuse Gefühle und Ängste, manche Meldung, die mich damals schon erreichte, manche Zeile über die örtliche Naziszene. Um den Überblick nicht zu verlieren. Während wir im Auto in einen Stau fahren begreife ich, dass ich längst den Überblick verloren habe.
Zischend landet Asche im feuchten Aschenbecher. Das zweite Bier ist offen.  Hellerdorf. Die Erfahrungen dort waren für mich schwer. So schwer, dass ich die einzelnen Dinge nicht klar benennen kann. Einerseits war das dort erlebte gewissermaßen eine Bestätigung dessen, was ich eh schon fühlte, anderseits machen sie Angst vor dem, was noch kommt. – Bin ich bereit dafür?
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